711 N. Chr. - Muslime in Europa
der Kulturen und die Verschmelzung christlicher, jüdischer und muslimischer Einflüsse als den eigentlichen Prozess, der am Ende zu einer spanischen Einheit geführt habe. Claudio Sánchez Albornoz, der ebenfalls ins Exil gegangen war und im argentinischen Buenos Aires lebte, wurde im Gegensatz dazu nie müde zu unterstreichen, dass der Beitrag von Arabern und Berbern von weit geringerer Bedeutung für die Entwicklung der Iberischen Halbinsel gewesen sei als jener der Römer und des christlichen Europas. Er weigerte sich kategorisch, das durch die Vertreibung der Juden, den Fall Granadas und die Entdeckung der Neuen Welt vielfach als Einschnitt verstandene Jahr 1492 als Beginn eines unaufhaltbaren Abstiegs anzusehen.
Nicht unberührt von diesen grundlegenden Diskussionen werden neuerdings vor allem die Unterschiede unterstrichen. Die Frage nach den Mechanismen, die zu »nationaler« Einheit geführt haben, sind dabei weniger relevant, als der vergleichende Blick auf die Details. Es ist inzwischen deutlich, dass nur durch die Betrachtung örtlicher und regionaler Entwicklungen ein halbwegs verlässliches Bild der Verhältnisse entstehen kann. Diese Tendenz manifestiert sich seit Mitte der 1980er Jahre in einer steigenden |119| Zahl von Veröffentlichungen, die aus lokaler Perspektive das wechselvolle Zusammenleben von Christen, Muslimen und Juden beleuchten. War dieses Feld anfangs vor allem von spanischen und portugiesischen Historikern besetzt, so wurde es als lohnendes Forschungsgebiet schon bald auch von französischen und britischen Wissenschaftlern entdeckt. Seit einiger Zeit wächst auch in der deutschen Geschichtswissenschaft das Interesse an der Geschichte der Iberischen Halbinsel. Zu Forschungszentren auf diesem Gebiet haben sich die Universitäten von Nürnberg-Erlangen und Bochum entwickelt.
Was wäre geschehen ...
Jenseits alles Faktischen und historisch Belegbaren reizt es angesichts der Tragweite der Ereignisse von 711, über zwei Fragen nachzudenken: Erstens, was wäre geschehen, wenn Tariq ibn Ziyad und seine Krieger nicht bei Gibraltar gelandet wären? Und zweitens, welche Auswirkungen hätte es gehabt, wenn die Reconquista gescheitert wäre und die Muslime sich auf der Iberischen Halbinsel behauptet hätten?
... wenn es auf der Iberischen Halbinsel keinen Islam gegeben hätte? – Szenario I
Bei dem Gedankenspiel »was wäre wenn« lässt sich auf der Basis historischer Fakten und Entwicklungen zwischen mehr oder weniger sicheren Antworten und Spekulationen unterscheiden. Zunächst einmal müsste sich jeder Besucher der Iberischen Halbinsel die Städte Andalusiens und die wunderbare Landschaft um viele herausragende Bauwerke ärmer vorstellen. Ohne die arabischen Baumeister gäbe es keine Alhambra in Granada, und die Kathedrale von Córdoba wäre ein Gotteshaus wie zahlreiche andere in Europa. Fehlen würden die Überreste der maurischen Festungen, die vielerorts das Gesicht des städtischen Umlandes und der malerischen Dörfer prägen. Es gäbe auch keine kunstvollen Arabesken oder Stilelemente orientalischer Baukunst, ebenso wenig die orientalischen Bäder, die im Zeitalter der Wellness wiederentdeckt |120| werden. Und ohne die erbitterten Schlachten gegen die Muslime – ob nun bei Arcos de la Frontera, Las Navas de Tolosa oder Covadonga – wäre Spanien um einige Stätten nationaler Erinnerung ärmer. Die Spanier hätten wohl auch keinen Flamenco. Immerhin merkt man diesem Tanz, der wie kein zweiter für die Iberische Halbinsel steht, den Einfluss der orientalischen Musik deutlich an.
Vermutlich fehlte auch auf der Speisekarte manches, nicht jedoch die Orangen. Ihre kulinarische Wanderung verlief andersherum: Die Früchte wurden auf der Iberischen Habinsel nämlich erst eingeführt, nachdem die Araber das Land wieder verlassen hatten. Die begehrten Zitrusfrüchte gelangten, wie ihr botanischer Name
Citrus sinis
verrät, aus China nach Portugal. Von dort kamen sie in die arabische Welt. Ihre Reise lässt ihr arabischer Name »Burtuqal« bis heute erkennen, der nichts Anderes bedeutet als »Portugal«. Indirekt haben die Araber aber auch hiermit zu tun: Wer weiß, wie sich die Landwirtschaft ohne die ausgeklügelten Bewässerungssysteme aus dem Orient entwickelt hätte? Was wäre auf dem zum Teil kargen Land gewachsen? Zumindest diese Gegebenheiten lassen sich auf Grundlage von Fakten mit einiger Sicherheit als Antwort auf die Frage feststellen, was passiert wäre, hätten die Berber und
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