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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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mich untersuchen, aber ich bat sie, mich eine Zeit lang allein zu lassen. Als sie gegangen waren, genoss ich in aller Stille den Komfort, die Sauberkeit und den Frieden des kleinen Zimmers. Ich lehnte mich auf der weichen Matratze zurück, spürte die glatten, gestärkten Betttücher. Erst langsam wurde es mir bewusst: Ich war in Sicherheit; ich würde nach Hause fahren. Ich tat einen langen Atemzug, dann atmete ich langsam und in aller Ruhe aus. Noch einmal Luft holen , hatten wir auf dem Berg immer gesagt, um uns gegenseitig in Augenblicken der Verzweiflung Mut zu machen. Solange du atmest, lebst du noch. An jenen Tagen war Atmen fast ein trotziger Akt. An den ganzen zweiundsiebzig Tagen in den Anden hatte ich keinen einzigen Atemzug ohne Angst getan. Jetzt endlich genoss ich den Luxus, ganz einfach nur zu atmen. Immer und immer wieder ließ ich die Luft in meine Lunge strömen und stieß sie in langen, gemächlichen Zügen wieder aus, und mit jedem Atemzug flüsterte ich mir voller Verblüffung zu:
    Ich lebe noch. Ich lebe noch. Ich lebe noch.
    Plötzlich wurde ich in meinen Gedanken gestört.Vor meinem Zimmer hörte ich laute Stimmen und etwas, das sich wie ein Handgemenge auf dem Flur anhörte. »Beruhigen Sie sich doch!«, bellte eine energische Männerstimme. »Da darf niemand rein.«
    Eine Frauenstimme antwortete. »Mein Bruder ist da drin!«, rief sie. »Ich muss zu ihm! Bitte!«
    Ich trat gerade noch rechtzeitig auf den Flur, um zu sehen, wie meine Schwester Graciela sich an zwei Krankenpflegern vorüberdrängte. Ich rief ihren Namen, und als sie mich sah, begann sie zu schluchzen. Sekunden später lagen wir uns in den Armen, und mein Herz floss über vor Liebe, als ich sie festhielt. Ihr Mann Juan war bei ihr. Auch in seinen Augen standen Tränen, und für kurze Zeit umarmten wir uns alle drei, ohne ein Wort zu sagen. Dann blickte ich auf. Am Ende des Korridors, bewegungslos im fahlen Licht der Leuchtstoffröhren, stand die magere, gebeugte Gestalt meines Vaters. Ich ging zu ihm, umarmte ihn und zog ihn in die Höhe, bis seine Füße sich vom Boden lösten. »Siehst du, Papa, ich bin immer noch so stark, dass ich dich hochheben kann«, flüsterte ich, als ich ihn wieder absetzte. Er drückte mich an sich, berührte mich, wollte sich vergewissern, dass ich wirklich da war. Ich hielt ihn lange fest und spürte ihn beben, während er weinte. Eine Zeit lang sagte keiner ein Wort. Dann flüsterte er, den Kopf immer noch gegen meine Brust gepresst: »Mami? Susy?«
    Ich antwortete mit sanftem Schweigen, und als er es begriff, sank er in meinen Armen ein wenig zusammen. Kurz darauf kam meine Schwester zu uns und führte uns wieder in mein Zimmer. Sie versammelten sich um mein Bett, und ich erzählte ihnen die Geschichte von meinem Leben in den Bergen. Ich beschrieb den Absturz, die Kälte, die Angst, meine lange Wanderung mit Roberto. Ich schilderte ihnen, wie meine Mutter gestorben war und wie ich Susy getröstet hatte. Als ich meine Schwester erwähnte, fing mein Vater an zu wimmern, und so ersparte ich ihm die Einzelheiten ihres Leidens. Nach meiner Überzeugung reichte es, wenn er wusste, dass sie nie allein gelassen wurde und dass sie in meinen Armen gestorben war. Graciela weinte leise, während ich sprach. Sie konnte den Blick nicht von mir wenden. Mein Vater saß schweigend neben dem Bett, hörte zu, nickte mit einem herzzerreißenden Lächeln auf dem Gesicht. Als ich geendet hatte, herrschte Schweigen. Irgendwann fand mein Vater die Kraft zu sprechen.
    »Wie habt ihr so viele Wochen überlebt, ohne etwas zu essen?«, fragte er.
    Ich sagte ihm, dass wir das Fleisch derer gegessen hatten, die nicht am Leben geblieben waren. Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht.
    »Ihr habt getan, was ihr tun musstet«, sagte er, und seine Stimme klang rau von seinen Gefühlen. »Ich bin froh, dass du wieder zu Hause bist.«
    Ich wollte ihm noch so vieles sagen – dass ich in jedem Augenblick an ihn gedacht hatte, dass seine Liebe das Licht gewesen war, das mir den Weg in die Sicherheit gewiesen hatte. Aber dafür würde später noch Zeit sein. Jetzt wollte ich einfach nur unser Wiedersehen genießen, so bittersüß es auch war. Anfangs mochte ich kaum glauben, dass dieser Moment, von dem ich so lange geträumt hatte,Wirklichkeit geworden war. Mein Geist arbeitete langsam, und meine Gefühle waren auf eine seltsame Weise verstummt. Ich spürte weder Erleichterung noch Triumph, sondern nur ein sanftes Glimmen von

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