72 Tage in der Hoelle
hinaus. Als ich nach draußen blickte, sah ich Daniel auf uns zulaufen. Er duckte sich unter dem Rotor und wollte in die Maschine springen, aber er schätzte die Entfernung falsch ein und krachte mit der Brust gegen die Hubschrauberkufe.
» Carajo! «, schrie er, »ich habe mir die Rippen gebrochen.«
»Bring dich nicht jetzt noch um!«, rief ich. Dann griff ich nach unten und zog Daniel in die Maschine. Hinter ihm kletterte Alvaro Mangino herein.
»Mehr können wir nicht mitnehmen«, brüllte Garcia. »Die anderen holen wir morgen. Jetzt macht die Tür zu!« Ich befolgte den Befehl des Kapitäns, und Sekunden später schwebten wir über der Absturzstelle. Jetzt ging der zweite Hubschrauber tiefer, und weitere Retter sprangen auf die Böschung. Ich sah, wie Carlitos, Pedro und Eduardo in die wartende Maschine kletterten. Dann erkannte ich die ausgezehrte Gestalt von Coche Inciarte. Er torkelte auf den Hubschrauber zu.
»Coche lebt noch!«, sagte ich zu Daniel. »Wie geht es Roy?«
»Lebt«, erwiderte Daniel, »aber nur knapp.«
Der Rückflug nach Los Maitenes war ebenso nervenaufreibend wie der Hinweg, aber nach noch nicht einmal zwanzig Minuten landeten wir sicher auf der Wiese neben der Hütte der Bauern. Sobald sich die Türen der Maschine öffneten, wurden Daniel und Alvaro von Sanitätern weggebracht. Kurz darauf setzte etwa dreißig Meter entfernt der zweite Hubschrauber auf, und als die Türen aufglitten, stand ich daneben. Coche fiel mir überglücklich in die Arme, dann folgten Eduardo und Carlitos. Begeistert vom Anblick der Blumen und grünen Pflanzen, fielen einige im Gras auf die Knie. Andere umarmten sich und rollten sich zu zweit über den Boden. Carlitos schlang die Arme um mich und drückte mich zu Boden. »Du Teufelskerl!«, schrie er. »Du hast es geschafft! Du hast es geschafft!« Er strahlte mich an, seine Augen leuchteten vor Freude, und sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt.
»Ich freue mich, dich zu sehen, Carlitos«, sagte ich, »aber bitte, du wirst mich doch nicht küssen wollen, oder?«
Als die erste Begeisterung vorüber war, brachten sie uns heiße Suppe, Käse und Süßigkeiten.Während Sanitäter die sechs Neuankömmlinge untersuchten, begab ich mich auf die Suche nach Kapitän Garcia und fragte ihn, wann sie die restlichen Überlebenden vom Berg holen würden. Er erklärte mir, es sei zu gefährlich, nachts ins Gebirge zu fliegen. Die Rettung werde sich noch um einen weiteren Tag verzögern. Aber er versicherte mir, die Sanitäter und Rettungskräfte, die wir auf dem Berg abgesetzt hatten, würden alle Jungs gut versorgen.
Als wir satt waren, wurden wir in die Hubschrauber geladen und zu einem Militärstützpunkt bei der Kleinstadt San Fernando gebracht. Dort halfen uns Ärzte und Krankenschwestern, in die bereitstehenden Krankenwagen zu steigen. Von Polizisten auf Motorrädern eskortiert, fuhren die Ambulanzen im Konvoi ab, und nach etwa zehn Minuten hatten wir das Krankenhaus San Juan de Dios erreicht. Auf dem Parkplatz erwartete uns das Krankenhauspersonal mit fahrbaren Tragen. Manche Jungs konnten die Hilfe gut gebrauchen, aber ich erklärte den Schwestern, ich könne selbst gehen. Nachdem ich so weit durch die Anden gewandert war, wollte ich mich die letzten Meter nicht tragen lassen.
Sie führten mich in ein kleines, sauberes Zimmer und schälten mir schichtweise die schmutzige Kleidung vom Körper. Die schmutzigen Lumpen warfen sie in eine Ecke. Dort sah ich sie liegen: Pullover, Jeans und lange Unterhosen, die meine zweite Haut gewesen waren. Man brachte mich ins Badezimmer und stellte mich unter die heiße Dusche. Ich spürte Hände, die mir die Haare wuschen, und ein weiches Tuch, das mir den Schmutz von der Haut schrubbte. Als ich fertig geduscht hatte, trockneten sie mich mit weichen Handtüchern ab, und plötzlich bemerkte ich mein eigenes Bild in dem hohen Badezimmerspiegel. Als ich sah, was aus mir geworden war, fiel mir der Unterkiefer herunter. Vor dem Absturz war ich ein austrainierter Sportler gewesen, aber jetzt war an meinem ganzen Knochengerüst kein einziger Muskel mehr. Durch die Haut waren die Rippen, Schulterblätter und Hüftknochen zu erkennen, und meine Arme und Beine waren derart bis auf die Knochen abgemagert, dass die Knie und Ellenbogen sich wölbten wie Knoten in einem Seil. Die Schwestern dirigierten mich vom Spiegel weg, zogen mir ein frisches Krankenhausnachthemd an, führten mich zu einem schmalen Bett und wollten
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