72 Tage in der Hoelle
Sicherheit und Frieden.Wie ich mich fühlte, war nicht mit Worten zu beschreiben, also saß ich einfach da und schwieg. Nach einiger Zeit hörten wir auf dem Flur die fröhlichen Stimmen der anderen, die ihre Söhne wiedergefunden hatten. Meine Schwester stand auf und schloss die Tür. In der Intimität meines Zimmers teilte ich mit denen, die aus meiner Familie übrig geblieben waren, das einfache Wunder, wieder zusammen zu sein.
10
Danach
Am nächsten Tag, dem 23. Dezember, wurden die acht auf dem Berg verbliebenen Überlebenden nach Santiago geflogen und dort im Krankenhaus Posta Centrale untersucht. Die Ärzte entschlossen sich, Roy und Javier zur weiteren Beobachtung in der Klinik zu behalten. Besondere Sorgen machten sie sich um Roy: Seine Blutwerte waren anormal und stellten möglicherweise eine Gefahr für sein Herz dar. Alle Übrigen wurden entlassen und ins Sheraton San Cristóbal Hotel gebracht, wo viele von ihnen ihre Familien wiedersahen. Am selben Nachmittag fuhren auch wir, die übrigen acht, vom Krankenhaus San Juan nach Santiago. Alvaro und Coche, die Schwächsten aus unserer Gruppe, wurden im Posta Centrale weiterbehandelt, die anderen machten sich auf ins Sheraton, wo ein großes Wiedersehen stattfand.
Im Hotel wie in ganz Santiago feierte man freudig unsere Rettung, und überall herrschte eine Atmosphäre religiöser Ehrfurcht. Zeitungen bezeichneten unsere Rückkehr als »Weihnachtswunder«, und für viele Menschen wurden wir geradezu zu mystischen Gestalten: junge Männer, die durch Gottes direktes Eingreifen gerettet worden waren und den lebenden Beweis für Seine Liebe darstellten. Die Nachricht von unserem Überleben machte auf der ganzen Welt Schlagzeilen, und in der Öffentlichkeit herrschte gewaltiges Interesse. In der Lobby des Sheraton-Hotels und den umliegenden Straßen wimmelte es rund um die Uhr von Reportern und Fernsehteams, die nur darauf warteten, über jeden unserer Schritte zu berichten. Wir konnten nicht in ein Café gehen und eine Kleinigkeit essen oder uns in aller Ruhe mit unseren Angehörigen unterhalten, ohne dass eine Horde Journalisten uns Mikrofone unter die Nase hielt und unsere Gesichter mit einem Blitzlichtgewitter bombardierte.
An Heiligabend wurde in einem Saal des Hotels zu unseren Ehren ein großes Fest veranstaltet. Dort herrschte eine Atmosphäre der Freude und Dankbarkeit – viele Überlebende und ihre Angehörigen dankten Gott, dass er uns vom Tod errettet hatte. »Ich habe euch doch gesagt: Weihnachten sind wir zu Hause«, sagte Carlitos zu mir, und dabei lag auf seinem Gesicht das gleiche zuversichtliche Lächeln wie in den Bergen. »Ich habe euch gesagt, dass Gott uns nicht aufgibt.« Es freute mich für ihn und die anderen, aber als ich zusah, wie sie ihre Freude mit ihren Angehörigen teilten, wurde mir klar, dass alle anderen Überlebenden mit Ausnahme von Javier in das gleiche Leben zurückkehren würden, das sie auch zuvor geführt hatten. Viele von ihnen hatten durch die Katastrophe zwar enge Freunde verloren, und alle hatten einen unglaublichen Albtraum durchlebt, doch jetzt war für sie alles vorüber. Ihre Familien waren intakt. Sie würden wieder ihren Eltern, Geschwistern und Freundinnen in die Arme fallen. Ihre Welt würde sie wieder aufnehmen, und alles würde so sein wie früher. Meine Welt dagegen war zerstört, und die Feier machte für mich nur allzu deutlich, wie viel ich verloren hatte. Nie mehr würde ich Weihnachten mit meiner Mutter oder mit Susy feiern. Mir war klar, dass mein Vater am Boden zerstört war, und ich fragte mich, ob er jemals wieder zu dem Menschen werden würde, der er einst gewesen war. An jenem Abend bemühte ich mich mitzufeiern, zugleich fühlte ich mich jedoch sehr allein, und ich begriff:Was für die anderen ein Triumph war, sollte für mich zum Beginn einer neuen, ungewissen Zukunft werden.
Nach drei Tagen wurde die Zirkusatmosphäre in dem Hotel in Santiago unerträglich, und mein Vater zog mit uns in ein Haus in dem chilenischen Badeort Viña del Mar. Dort verbrachten wir drei stille Tage mit Ausruhen, Herumfahren und Sonnenbaden. Am Strand kam ich mir vor wie eine Kuriosität. Ich war in allen Zeitungen abgebildet gewesen, und mit dem langen Bart und den durch die Haut sichtbaren Knochen war ich ohne Weiteres als Überlebender zu erkennen. Ich konnte keine paar Meter gehen, ohne dass fremde Menschen mich ansprachen, also blieb ich in der Nähe des Hauses und verbrachte viele Stunden mit meinem
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