72 Tage in der Hoelle
dass sie auch nicht zwischen die Dünen ging, wo ein Fremder sie mir vielleicht weggenommen hätte. Ich behielt sie stets im Blick und starrte jeden an, der in ihre Nähe kam. Schon als Kind wusste ich, dass der Strand voller Gefahren war und dass ich aufpassen musste, damit ihr nichts zustieß.
Dieser Beschützerinstinkt wurde mit den Jahren immer stärker. Ich kannte ihre Freunde und Bekannten, und als ich alt genug zum Autofahren war, spielte ich für Susy und ihre Clique den Chauffeur. Ich brachte sie zum Tanzen und zu Partys, und anschließend holte ich sie wieder ab. Es machte mir Spaß. Und es war ein angenehmes Gefühl zu wissen, dass ihr nichts passieren konnte. Ich weiß noch, wie wir zu dem großen Kinopalast in unserer Nähe fuhren, wo sich am Wochenende alle unsere Freunde trafen. Sie saß während des Films mit ihren Freunden zusammen und ich mit meinen, aber ich ließ sie im Dunkeln nie ganz aus den Augen und schaute immer wieder nach ihr. Sie wusste, dass ich da war, falls sie mich brauchte. Andere Mädchen hätten einen solchen Bruder vielleicht schrecklich gefunden, aber Susy gefiel es, dass ich so besorgt um sie war; am Ende kamen wir uns dadurch noch näher.
Als ich sie jetzt in den Armen hielt, empfand ich eine entsetzlich schmerzliche Hilflosigkeit. Sie leiden zu sehen, war für mich eine schreckliche Qual, und doch konnte ich nichts für sie tun. Ich hätte alles unternommen, um Susy die Schmerzen zu ersparen. Selbst hier, in der zertrümmerten Hülle des Flugzeugs, hätte ich bereitwillig mein Leben geopfert, um ihr Leiden zu beenden und sie nach Hause zu meinem Vater zu schicken.
Mein Vater! In dem ganzen Chaos und Durcheinander hatte ich noch keine Zeit gehabt, an ihn zu denken, daran, was er durchmachen musste. Er hatte die Nachricht vom Absturz der Maschine vor drei Tagen erhalten und die ganze Zeit in dem Glauben gelebt, dass er uns alle verloren hatte. Ich kannte ihn gut, kannte seine zutiefst praktische Einstellung, und ich wusste, dass er sich den Luxus falscher Hoffnungen nicht gestatten würde. Einen Flugzeugabsturz in den Anden überleben? Mitten im Winter? Unmöglich. Jetzt sah ich ihn in aller Schärfe vor mir, meinen starken, liebevollen Vater, wie er sich im Bett herumwarf, vor den Kopf geschlagen durch diesen unvorstellbaren Verlust. Nach all der Sorge um das Wohl seiner Familie, nach all der Arbeit und Planung, bei all seinem Vertrauen in die Ordnung der Welt und unser gesichertes Glück:Wie konnte er da die brutale Wahrheit ertragen? Er konnte uns letztlich nicht beschützen. Er konnte uns nicht beschützen . Es brach mir das Herz, dass er so etwas durchmachen musste, und dieses gebrochene Herz verursachte mehr Schmerzen als der Durst, die Kälte, die nagende Angst und der zermürbende Schmerz in meinem Kopf. Ich malte mir aus, wie er um mich trauerte. Um mich trauerte! Ich konnte den Gedanken, dass er mich tot glaubte, nicht ertragen. Mich überfiel ein dringendes, fast überwältigendes Verlangen, bei ihm zu sein, ihn zu trösten, ihm zu sagen, dass ich mich um meine Schwester kümmerte, ihm zu zeigen, dass er uns nicht alle verloren hatte.
»Ich lebe noch«, flüsterte ich ihm zu. »Ich lebe noch.«
Wie dringend hätte ich jetzt die Stärke und Klugheit meines Vaters gebraucht! Wenn er hier wäre, wüsste er sicher, wie er uns nach Hause bringen könnte. Aber der Nachmittag verging, es wurde kälter und dunkler, und ich versank in einer Stimmung der schieren Verzweiflung. Von meinem Vater fühlte ich mich so weit entfernt wie eine Seele im Himmel. Mir war, als wären wir durch einen Spalt im Himmel in eine Hölle aus Eis hinabgestürzt, aus der jede Rückkehr in die normale Welt völlig unmöglich war. Ich kannte natürlich die Mythen und Legenden, in denen Helden in eine böse Unterwelt geraten oder in einen Zauberwald gelockt werden, aus dem es kein Entrinnen gibt. Wenn sie nach Hause zurückkehren wollen, müssen sie zahlreiche Prüfungen erdulden, Kämpfe mit Drachen und Dämonen, Kräftemessen mit Zauberern, Schiffsreisen über aufgewühlte Meere. Und selbst solchen großen Helden gelingt die Rückkehr nur mit magischer Hilfe – mit den Ratschlägen eines Zauberers, einem fliegenden Teppich, einem geheimen Zauberspruch oder einem magischen Schwert. Wir waren hingegen ein paar unbedarfte Jungen und hatten noch nie in unserem Leben richtig gelitten. Die wenigsten hatten überhaupt schon einmal Schnee gesehen, und keiner hatte auch nur einen Fuß ins Gebirge
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