72 Tage in der Hoelle
gesetzt. Welcher Held würde uns zu Hilfe kommen? Welche Magie würde uns nach Hause führen?
Ich vergrub mein Gesicht in Susys Haaren, um mein eigenes Schluchzen zu unterdrücken. Plötzlich, als hätte sie einen eigenen Willen, flackerte eine alte Erinnerung in meinem Geist auf, eine Geschichte, die mein Vater mir unzählige Male erzählt hatte. Als junger Mann war er einer der führenden Ruder-Leistungssportler Uruguays gewesen, und eines Sommers war er zu einem Wettkampf nach Argentinien gereist. Schauplatz der Regatta war das Delta del Tigre, ein Abschnitt des Uruguay-Flusses. Seler war ein starker Ruderer und konnte das Hauptfeld schnell hinter sich lassen, aber ein argentinischer Konkurrent blieb ihm auf den Fersen. Kopf an Kopf legten sie die gesamte Rennstrecke zurück, beide kämpften mit aller Kraft, um einen kleinen Vorsprung herauszuholen, aber auch als die Ziellinie nahte, war nicht abzusehen, wer gewinnen würde. Meinem Vater brannte die Lunge, und seine Beine schmerzten von Krämpfen. Er wollte sich nur noch nach vorn fallen lassen, tief Luft holen und der Strapaze ein Ende machen. Es gibt noch andere Rennen , sagte er sich, als er den Griff an den Riemen lockerte. Aber als er zu dem Konkurrenten im Boot neben ihm hinüberblickte, sah er in dessen Gesicht die schiere Qual. »Da wurde mir klar, dass er ebenso gelitten hat wie ich«, sagte mein Vater, »und ich habe mich entschlossen, doch nicht aufzugeben. Ich habe mich dafür entschieden, noch ein bisschen länger zu leiden.«
Mit neuer Entschlossenheit tauchte Seler die Riemen ins Wasser und zog mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte. Sein Herz raste, der Magen krampfte sich zusammen, und die Muskeln fühlten sich an, als würden sie von den Knochen gerissen. Aber er zwang sich, zu kämpfen, und als die beiden Boote das Ziel erreichten, überquerte sein Bug die Linie um wenige Zentimeter früher.
Als mein Vater mir dieses Erlebnis zum ersten Mal schilderte, war ich fünf Jahre alt. Das Bild, das er mir von sich vermittelte, ließ mich in Ehrfurcht erstarren: mein Vater, der am Rand der Niederlage stand und dann den Willen zum Durchhalten aufbrachte. Als Junge bat ich ihn immer wieder, mir die Geschichte noch einmal zu erzählen. Ich wurde nie müde, sie zu hören, und das Bild von meinem heldenhaften Vater ging nie verloren.Wenn ich ihn viele Jahre später bei seiner Arbeit im Büro der Eisenwarenhandlung sah, wie er sich spät abends müde über seinen Schreibtisch beugte und durch seine dicken Brillengläser die Stapel von Rechnungen und anderen Schreiben musterte, sah ich im Geist immer noch den heldenhaften jungen Mann auf jenem Fluss in Argentinien, der litt, kämpfte, sich weigerte aufzugeben, einen Mann, der wusste, wo die Ziellinie war, und der stets alles Notwendige tun würde, um sie zu erreichen.
Als ich mich in dem Flugzeug an Susy kuschelte, musste ich daran denken, wie mein Vater auf dem Fluss in Argentinien gekämpft hatte. Ich suchte in mir nach der gleichen Stärke, aber ich fand nur Hoffnungslosigkeit und Angst. Ich hörte die Stimme meines Vaters, seinen alten Ratschlag: Sei stark, Nando, sei klug. Du bist deines eigenen Glückes Schmied. Kümmere dich um die Menschen, die du liebst. Aber jetzt weckten die Worte in mir nichts anderes als ein tiefes Gefühl des Verlustes.
Susy stöhnte leise und wand sich in meinen Armen. »Keine Sorge«, flüsterte ich ihr zu, »sie werden uns finden. Dann bringen sie uns nach Hause.« Ob ich selbst an meine Worte glaubte – ich weiß es nicht. Mein einziger Gedanke war, meine Schwester zu trösten. Die Sonne ging unter, und als das Licht im Flugzeugrumpf schwächer wurde, nahm die eisige Kälte der Luft noch an Schärfe zu. Die anderen, die bereits zwei lange Nächte im Gebirge hinter sich hatten, suchten ihre Schlafstellen auf und bereiteten sich innerlich auf das Elend vor, das, wie sie alle wussten, noch vor ihnen lag. Wenig später herrschte in dem Flugzeug völlige Dunkelheit, und die Kälte schloss sich um uns wie die Backen eines Schraubstocks. Ihre Heftigkeit nahm mir den Atem. Es war, als hätte die Kälte etwas Bösartiges, einen mörderischen Willen, aber es gab keine Möglichkeit, ihrem Angriff anders zu begegnen als dadurch, dass ich mich noch näher an meine Schwester kuschelte. Selbst die Zeit schien eingefroren zu sein. Ich lag auf dem kalten Boden des Flugzeugrumpfes, gequält von eisigen Böen, die durch alle Löcher und Risse pfiffen, und bibberte unkontrolliert.
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