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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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Mir schien, als vergingen Stunden und als müsste der Morgen in wenigen Augenblicken dämmern. Dann sagte jemand mit einer Leuchtarmbanduhr die Zeit an, und ich erfuhr, dass erst einige Minuten verstrichen waren. Einen gefrorenen Atemzug um den anderen, von einem zitternden Herzschlag zum nächsten, durchlitt ich die Nacht, und jeder Augenblick war die Hölle. Als ich glaubte, ich könne es nicht mehr ertragen, zog ich Susy näher an mich, und der Gedanke, dass ich sie tröstete, ließ mich bei Verstand bleiben. In der Dunkelheit konnte ich Susys Gesicht nicht sehen, ich hörte nur ihr mühsames Atmen. Als ich neben ihr lag, machte sich die Überfülle meiner Liebe zu ihr, zu meiner toten Mutter und meinen toten Freunden, zu der plötzlich so kostbaren, zerbrechlichen Vorstellung von meinem eigenen Leben in meinem Herz mit einem so tief reichenden Schmerz breit, dass sie mir alle Kräfte raubte, und einen Augenblick lang glaubte ich, ich würde ohnmächtig. Aber ich bekam mich wieder in den Griff, rückte näher zu Susy, schlang die Arme so sanft wie möglich um sie, wobei ich an ihre Verletzungen dachte und den Drang unterdrückte, sie mit aller Kraft an mich zu ziehen. Ich legte meine Wange an ihre, sodass ich ihren warmen Atem im Gesicht spürte, und hielt sie so die ganze Nacht fest: Sachte umarmte ich sie, als umarmte ich alles, was ich an Liebe, Frieden und Freude jemals gekannt hatte oder kennen würde; als ob ich mit meinem Griff verhindern könnte, dass mir alles, was kostbar war, entglitt.

3
     
    Ein Versprechen
     
    In jener ersten Nacht nach dem Ende des Komas schlief ich sehr wenig. Hellwach lag ich in der eisigen Dunkelheit, und mir war, als würde die Morgendämmerung nie mehr einsetzen. Aber endlich erhellte schwaches Licht die Fenster des Flugzeugrumpfes, und die anderen begannen sich zu rühren. Als ich sie sah, war ich entsetzt: Haare, Augenbrauen und Lippen glitzerten von dickem Raureif, und sie bewegten sich steif und langsam wie alte Männer. Als ich mich erheben wollte, bemerkte ich, dass meine Kleidung am Körper steif gefroren war; an meinen Brauen und Wimpern hingen Eisklumpen. Ich zwang mich aufzustehen. Immer noch pochte der Schmerz in meinem Kopf, aber es hatte aufgehört zu bluten. Ich stolperte aus dem Rumpf nach draußen und warf einen ersten Blick auf die eigenartige weiße Welt, in die wir gestürzt waren.
    Die Morgensonne beleuchtete die schneebedeckten Abhänge mit einem harten, weißen Licht, und als ich den Blick über die Landschaft rund um die Absturzstelle schweifen ließ, musste ich die Augen zusammenkneifen. Der zerschmetterte Rumpf der Fairchild war auf einem verschneiten Gletscher zu liegen gekommen, der den östlichen Abhang eines gewaltigen, eisverkrusteten Berges bedeckte. Die verbeulte Nase der Maschine zeigte ein wenig bergab. Der Gletscher erstreckte sich den Berg hinunter in ein breites Tal, das sich kilometerweit zwischen den Gebirgsketten hinzog und schließlich am östlichen Horizont in einem Labyrinth schneebedeckter Bergrücken verschwand. Nur in östlicher Richtung konnten wir eine größere Entfernung überblicken. Nach Norden, Süden und Westen versperrten hoch aufragende Berge die Sicht.Wir wussten, dass wir uns hoch oben in den Anden befanden, aber über uns stiegen die verschneiten Abhänge noch höher an, und wenn ich ihre Gipfel sehen wollte, musste ich den Kopf in den Nacken legen. Ganz oben ragten die schwarzen Spitzen der Berge aus der Schneedecke; sie waren geformt wie grob behauene Pyramiden, gewaltige Zelte oder riesige, abgebrochene Backenzähne. Die Bergrücken bildeten einen gezackten Halbkreis, der sich um die Absturzstelle zog wie die Mauer eines gigantischen Amphitheaters; und mitten auf der Bühne lag das Wrack der Fairchild.
    Als ich mich in unserer neuen Welt umsah, war ich völlig verblüfft von dem seltsam traumartigen Charakter der Gegend. Nur mit Mühe konnte ich mich zu der Überzeugung durchringen, dass sie real war. Die Berge waren so riesig, so rein und still, und so weit entfernt von allen Dingen aus meinem Erfahrungsbereich, dass ich ganz außer mir war. Ich hatte mein ganzes Leben in Montevideo verbracht, einer Stadt mit eineinhalb Millionen Einwohnern, und nie war mir der Gedanke gekommen, dass Städte künstliche Gebilde sind, errichtet in einem Größenmaßstab und Bezugsrahmen, der für Menschen nützlich und sinnvoll ist. Dagegen waren die Anden von der Erdkruste in die Höhe geschoben worden, und das schon Jahrmillionen

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