Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
Vom Netzwerk:
bevor die ersten Menschen auf unserem Planeten wandelten. In dieser Gegend kam nichts dem menschlichen Leben entgegen oder nahm auch nur seine Existenz zur Kenntnis. Die Kälte quälte uns. Die dünne Luft machte unseren Lungen zu schaffen. Das ungedämpfte Sonnenlicht blendete uns und ließ Blasen auf Lippen und Haut entstehen, und der Schnee war tief: Nachdem die Morgensonne die Eiskruste weggetaut hatte, die sich jede Nacht auf seiner Oberfläche bildete, konnten wir uns nicht weit vom Flugzeug entfernen, ohne bis zur Hüfte in den Schneeverwehungen zu versinken. Und auf den endlosen, kilometerlangen gefrorenen Hängen und Tälern um uns herum gab es nichts, was einem Lebewesen als Nahrung dienen konnte – keinen Vogel, kein Insekt, keinen einzigen Grashalm. Selbst wenn wir auf dem offenen Ozean gestrandet oder uns in der Sahara verirrt hätten, wären unsere Überlebenschancen besser gewesen. An solchen Orten überleben wenigstens irgendwelche Organismen. Im Hochgebirge der Anden dagegen gibt es in der kalten Jahreszeit keinerlei Leben. Wir waren hier auf eine absurde Weise deplatziert wie ein Seepferdchen in der Wüste oder eine Blume auf dem Mond. Eine grässliche Furcht beschlich mich. Ein Gedanke, den ich bisher nicht in Worte fassen konnte, wurde immer konkreter: Leben ist hier etwas Anormales, und die Berge werden diese Anomalie nicht allzu lange dulden.
    Von den ersten Stunden im Gebirge an spürte ich tief in meinem Inneren, welche unmittelbare Gefahr uns umgab. Es verging kein einziger Augenblick, in dem ich nicht die Nähe des Todes gespürt hätte, und keinen einzigen Augenblick verließ mich eine urtümliche Angst. Aber als ich so vor der Fairchild im Schnee stand, konnte ich dennoch nicht umhin, mich von dem Ehrfurcht gebietenden, großartigen Panorama fesseln zu lassen. Es war unfassbar schön – die gewaltige Größe und Kraft der Berge, die vom Wind verwehten Schneefelder, die in reinstem Weiß glitzerten, und die atemberaubende Schönheit des Himmels über den Anden. Als ich jetzt nach oben blickte, war er wolkenlos und strahlte in einem funkelnden, kalten Dunkelblau. Seine gespenstische Schönheit machte mich sprachlos, doch wie alles hier sorgten auch die Weite und Leere dieses endlosen Himmels dafür, dass ich mich klein und verloren und ungeheuer weit weg von zu Hause fühlte. In dieser urtümlichen Welt mit ihrer erdrückenden Größe, ihrer leblosen Schönheit und ihrer gespenstischen Stille hatte ich in einem ganz grundlegenden Sinn das Gefühl, seltsam abgeschnitten von der Wirklichkeit zu sein, und das machte mir mehr Angst als alles andere. Tief in meinem Inneren spürte ich, dass wir hier nur dann überleben konnten, wenn wir richtig auf Herausforderungen und Katastrophen reagierten, die wir uns jetzt noch nicht einmal ausmalen konnten. Wir spielten gegen einen unbekannten, unnachsichtigen Gegner. Unser Einsatz war hoch – wir mussten gut spielen oder sterben -, und dabei kannten wir noch nicht einmal die wichtigsten Spielregeln. Ich wusste, dass ich über diese Regeln Bescheid wissen musste, wenn ich mein Leben retten wollte, aber die kalte, weiße Welt um mich herum bot mir keinerlei Anhaltspunkte.
    In jenen ersten Tagen des Martyriums hätte ich mich besser in die neue Realität hineingefunden, wenn ich mehr Erinnerungen an den Absturz gehabt hätte. Da ich schon früh das Bewusstsein verloren hatte, konnte ich mich nicht an den Unfallhergang erinnern. Die meisten anderen Überlebenden hatten jede Sekunde der Katastrophe miterlebt, und als sie über die Einzelheiten und die Verzweiflung der nachfolgenden Tage berichteten, wurde mir eines klar: Dass wir noch lebten, war ein Wunder.
    Ich konnte mich an den Flug über den Planchón-Pass erinnern: Wir bewegten uns in einer so dichten Wolkendecke, dass die Sichtweite nahezu bei Null lag und die Piloten sich auf ihre Instrumente verlassen mussten. Das Flugzeug wurde von schweren Turbulenzen durchgeschüttelt, und irgendwann erfasste uns ein Abwind, der die Maschine mindestens hundert Meter nach unten riss. Durch das schnelle Absinken gerieten wir unter die Wolkendecke, und in diesem Augenblick sahen die Piloten vermutlich zum ersten Mal den dunklen Bergrücken unmittelbar vor uns aufsteigen. In dem verzweifelten Versuch zu steigen, gaben sie sofort Gas. Das hatte zur Folge, dass die Nase der Fairchild sich um ein paar Grad aufrichtete, sodass ein Frontalaufprall auf dem Abhang vermieden wurde – dieser hätte die Maschine bei einer

Weitere Kostenlose Bücher