72 Tage in der Hoelle
Horizont abfällt. Nicht weit von mir machen die Schneefelder einem geordneten Mosaik aus Braun und Grün Platz – Felder, die den Talboden einnehmen. Zwischen den Feldern verlaufen schmale graue Linien, und ich weiß, diese Linien sind Straßen. Ich stolpere den westlichen Abhang des Berges hinunter und wandere stundenlang durch felsiges Gelände, bis ich eine dieser Straßen erreicht habe, und dann geht es auf der glatten Asphaltfläche nach Westen. Wenig später höre ich einen Lastwagen heranrumpeln. Ich winke dem verblüfften Fahrer, bis er anhält. Er ist misstrauisch gegenüber dem verzweifelten Fremden, der hier in der Einsamkeit herumwandert. Er muss begreifen, wer ich bin, und ich weiß genau, was ich sagen muss:
Vengo de un avión que cayó en las montañas ...
Ich komme von einem Flugzeug, das in den Bergen abgestürzt ist...
Er versteht und lässt mich ins Fahrerhaus klettern.Wir fahren zwischen grünen Äckern nach Westen bis zur nächsten Ortschaft, und dort finde ich ein Telefon. Ich wähle die Nummer meines Vaters, und im nächsten Augenblick höre ich sein erstauntes Schluchzen, als er meine Stimme erkennt. Einen oder zwei Tage später sind wir alle zusammen, und ich sehe den Ausdruck in seinen Augen – ein wenig Freude inmitten all der Traurigkeit. Er sagt nichts außer meinem Namen. Als ich ihn in die Arme nehme, spüre ich, wie er zusammenbricht …
Dieser Traum war für mich wie ein Mantra. Er gab mir Halt, war meine Rettungsleine. Ich schmückte ihn immer weiter aus, schliff ihn zurecht, bis er in meinem Geist glitzerte wie ein Edelstein. Die anderen hielten mich für verrückt und glaubten, es sei unmöglich, zu Fuß hier wegzukommen. Aber als die Fluchtfantasien konkreter wurden, nahm das Versprechen, das ich meinem Vater gegeben hatte, die Kraft eines heiligen Gelübdes an. Es ließ mich zielgerichteter denken, verwandelte meine Ängste in Motivation und vermittelte mir ein Gefühl von Richtung und hohen Idealen; damit hob es mich aus dem schwarzen Loch der Hilflosigkeit, in das ich nach dem Absturz gefallen war. Immer noch betete ich mit Marcelo und den anderen, immer noch flehte ich Gott um ein Wunder an und hörte jede Nacht angestrengt nach dem Geräusch von Hubschraubern, die sich ihren Weg durchs Gebirge suchten. Aber wenn das alles mich nicht mehr beruhigen konnte, wenn meine Ängste so heftig wurden, dass ich glaubte, sie würden mir den Verstand rauben, dann schloss ich die Augen und dachte an meinen Vater. Ich erneuerte mein Versprechen, zu ihm zurückzukehren, und im Geist kletterte ich auf den Berg.
Nachdem Susy tot war, blieben noch 27 Überlebende. Die meisten hatten Blutergüsse oder Platzwunden, aber angesichts der Kräfte, die bei dem Unfall frei geworden waren, und nach dem dreimaligen schweren Aufprall bei hoher Geschwindigkeit war es ein Wunder, dass nur so wenige von uns schwere Verletzungen davongetragen hatten. Einige waren fast ohne einen Kratzer davongekommen. Roberto und Gustavo waren nur leicht verletzt. Andere – Liliana, Javier, Pedro Algorta, Moncho Sabella, Daniel Shaw, Bobby François und Juan Carlos Mendendez, ein früherer Stella-Maris-Schüler, der mit Pancho Delgado befreundet war – hatten ebenfalls mit ein paar kleinen Schnitt- und Schürfwunden überlebt. Schwerer Verletzte wie Delgado und Alvaro Mangino, der sich die Beine gebrochen hatte, waren auf dem Weg der Besserung und konnten über die Unfallstelle humpeln. Antonio Vizintin, der an seiner Fleischwunde am Arm fast verblutet wäre, kam zunehmend zu Kräften. Fito Strauch und sein Cousin Eduardo hatten bei dem letzten Aufprall das Bewusstsein verloren, aber auch sie erholten sich schnell. Nur drei von uns hatten wirklich ernsthafte Verletzungen. Zu den schlimmsten gehörte mein Schädelbruch, doch die zerschmetterten Knochen wuchsen allmählich wieder zusammen. Damit blieben noch zwei Schwerverletzte: Arturo Nogueira, der beide Beine mehrfach gebrochen hatte, und Rafael Echavarren, bei dem sich der Wadenmuskel vom Knochen gelöst hatte. Beide hatten ständig starke Schmerzen, und sie so leiden zu sehen, gehörte zum Schlimmsten, was wir durchmachten.
Wir taten für sie, was wir konnten. Roberto baute ihnen Betten, einfache Hängematten aus Aluminiumpfosten und kräftigen Nylongurten, die wir aus dem Gepäckraum geholt hatten. In den Hängematten blieb den beiden die Qual erspart, mit uns anderen in einem unruhigen Durcheinander aus Leibern auf dem Fußboden des Flugzeugrumpfes zu
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