72 Tage in der Hoelle
meisten machten sich seine Argumente zu eigen, ohne Fragen zu stellen. Auch ich hätte ihm gern geglaubt, aber je mehr Zeit verstrich, desto weniger konnte ich die Zweifel zum Schweigen bringen, die in meinem Kopf heranwuchsen. Wir waren immer davon ausgegangen, dass die Behörden ungefähr wussten, wo unser Flugzeug abgestürzt war. Wir sagten uns, sie müssten die vorgesehene Route durch das Gebirge gekannt haben, und die Piloten hätten unterwegs sicher Funksprüche abgesetzt. Es ging nur darum, am Ort des letzten Funkkontakts anzufangen und dann entlang der Flugroute zu suchen. Konnte es denn so schwierig sein, das Wrack eines großen Flugzeugs auszumachen, das gut sichtbar auf einem Gletscher lag?
Mit einer energischen Suche, so mein Gedanke, hätte man uns mittlerweile doch sicher finden müssen; dass dennoch keine Rettung in Sicht war, zwang mich dazu, zwei grausige Schlussfolgerungen in Erwägung zu ziehen: Entweder machten sie sich eine falsche Vorstellung davon, wo wir abgestürzt waren, sodass sie in anderen Teilen des Gebirges suchten, oder sie hatten überhaupt keine Ahnung, wo wir uns befanden, und konnten das Suchgebiet nicht auf vernünftige Weise eingrenzen. Mir fiel ein, wie wild die Berge ausgesehen hatten, als wir über den Planchón-Pass flogen: steilwandige Schluchten, die sich kilometerweit am Fuß schwarzer Bergrücken hinzogen, und dahinter nichts als weitere Abhänge und Bergrücken, so weit das Auge reichte. Solche Gedanken ließen in mir eine grausame Erkenntnis reifen: Sie haben uns nicht gefunden, weil sie keine Ahnung haben, wo wir sind, und wenn sie es nicht einmal ungefähr feststellen können, werden sie uns niemals finden.
Anfangs behielt ich solche Gedanken für mich. Ich sagte mir, dass ich die Hoffnung der anderen nicht zerstören wollte. Aber vielleicht hatte ich auch andere, weniger selbstlose Motive. Vielleicht wollte ich meine Ängste nicht laut aussprechen, weil ich befürchtete, sie könnten dann Wirklichkeit werden. Wenn die Hoffnung verloren geht, schützt uns der Geist durch Leugnen, und mich schützte das Leugnen davor, meinem Wissen ins Gesicht zu sehen. Trotz aller Zweifel an den Aussichten auf eine Rettung wollte ich das Gleiche wie die anderen – ich wollte, dass jemand kam, mich aus dieser Hölle herausholte, nach Hause brachte und mir mein altes Leben wiedergab. Ganz gleich, wie nachdrücklich der Instinkt mir befahl, das Wunschdenken aufzugeben, ich wollte nur zu gern an ein Wunder glauben. Mein Herz nahm nicht zur Kenntnis, wie hoffnungslos unsere Lage war, und so hoffte ich weiter. Jede Nacht betete ich mit den anderen und flehte Gott an, die Retter schneller vorwärtskommen zu lassen. Ich lauschte auf das Knattern eines nahenden Hubschraubers. Ich nickte zustimmend, wenn Marcelo uns aufforderte, den Glauben nicht zu verlieren. Dennoch ruhten meine Zweifel nie. In jedem stillen Augenblick wanderte mein Geist nach Westen zu den gewaltigen Bergrücken, die uns hier gefangen hielten, und in meinem Kopf setzte ein Trommelfeuer ängstlicher Fragen ein: Was ist, wenn wir hier aus eigener Kraft herausklettern müssen? Habe ich genug Kraft, um eine Wanderung durch diese Wildnis zu überleben? Wie steil sind die Abhänge? Wie kalt ist es in der Nacht? Ist der Untergrund fest? Welchen Weg soll ich einschlagen? Was passiert, wenn ich stürze? Und immer wieder die Frage: Was liegt im Westen hinter diesen schwarzen Bergrücken?
Tief in meinem Inneren hatte ich immer gewusst, dass wir uns selbst retten mussten. Irgendwann teilte ich meine Überzeugung auch den anderen mit, und je mehr ich darüber sprach, desto mehr war ich versessen darauf, den Berg zu besteigen. Ich betrachtete die Idee unter allen Gesichtspunkten. Im Geist spielte ich meine Flucht so oft und realistisch durch, dass meine Tagträume so lebhaft wurden wie ein Film, der in meinem Kopf ablief. Ich sah es vor mir, wie ich über die weißen Böschungen zu den düsteren Gipfeln hinaufstieg, malte mir jeden brüchigen Halt im Schnee aus, prüfte jeden Stein auf Festigkeit, bevor ich danach griff, untersuchte jeden sorgfältig gesetzten Schritt meiner Füße. Ich wurde von eisigem Wind gepeitscht, rang in der dünnen Luft nach Atem, kämpfte mich durch hüfttiefen Schnee. In meinem Tagtraum ist jeder Schritt des Aufstiegs eine Qual, aber ich bleibe nicht stehen, mühe mich bergauf, bis ich schließlich den Gipfel erreiche und nach Westen blicken kann. Vor mir breitet sich ein weites Tal aus, das bis zum
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