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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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waren, der jetzt unsere einzige Wirklichkeit darstellte. Wie konnte das passieren? Wir waren junge Männer auf dem Weg zu einem Rugbyspiel! Plötzlich überfiel mich ein bedrückendes Gefühl der Leere. Bislang hatte ich mich die ganze Zeit nur um meine Schwester gekümmert. Das hatte mir ein Ziel und eine gewisse Stabilität verschafft. Es hatte meine Stunden ausgefüllt und mich von meinen eigenen Schmerzen und Ängsten abgelenkt. Jetzt war ich so entsetzlich allein. Es gab nichts, was mich von den schrecklichen Verhältnissen um mich herum ablenkte. Meine Mutter war tot. Meine Schwester war tot. Meine besten Freunde waren während des Fluges aus der Maschine gestürzt oder hier unter dem Schnee bestattet. Wir waren verletzt, hungerten und froren. Über eine Woche war vergangen, und immer noch hatten die Rettungskräfte uns nicht gefunden. Ich spürte, wie die brutalen Kräfte der Berge sich um mich sammelten, sah eine Landschaft ohne die geringsten Anzeichen von Wärme, Gnade oder Sanftheit. Als ich mit bedrückender neuer Klarheit begriff, wie weit wir von zu Hause entfernt waren, versank ich in Verzweiflung. Zum ersten Mal begriff ich, dass ich sterben würde.
    Eigentlich war ich schon tot. Das Leben war mir gestohlen worden. Die Zukunft, von der ich geträumt hatte, würde es nicht geben. Die Frau, die ich geheiratet hätte, würde mich nie kennen lernen. Meine Kinder würden nicht geboren werden. Nie wieder würde ich die liebevollen Blicke meiner Großmutter genießen oder die warme Umarmung meiner Schwester Graciela spüren. Nie mehr würde ich zu meinem Vater zurückkehren. Im Geist sah ich ihn vor mir in seinem Leid, und ich spürte eine so starke Sehnsucht, bei ihm zu sein, dass ich fast auf die Knie gesunken wäre. Hilflose Wut stieg mir im Hals hoch und ließ mich würgen, und für kurze Zeit fühlte ich mich so besiegt und gefangen, dass ich glaubte, ich würde den Verstand verlieren. Dann sah ich meinen Vater auf jenem Fluss in Argentinien – erschöpft, besiegt, am Rand der Niederlage, und mir fielen seine Worte des Widerstandes ein: Ich habe mich entschlossen, doch nicht aufzugeben. Ich habe mich dafür entschieden, noch ein bisschen länger zu leiden.
    Es war meine Lieblingsgeschichte, aber jetzt wurde mir klar, dass es mehr als nur eine Geschichte war: Es war ein Zeichen von meinem Vater, ein Geschenk der Klugheit und Stärke. Einen kurzen Augenblick lang glaubte ich, in seiner Nähe zu sein. Eine geradezu gespenstische Ruhe überfiel mich. Ich starrte die riesigen Berge im Westen an und malte mir aus, wie ein Weg über sie hinweg nach Hause führte. Ich spürte die Liebe meines Vaters an mir ziehen wie eine Rettungsleine, und sie zog mich zu diesen kahlen Abhängen. Den Blick starr nach Westen gerichtet, legte ich meinem Vater gegenüber ein stillschweigendes Gelübde ab: Ich werde kämpfen. Ich werde nach Hause kommen. Ich werde nicht zulassen, dass die Bande zwischen uns zerbrechen. Ich verspreche dir, ich werde hier nicht sterben! Ich werde hier nicht sterben!

4
     
    Noch einmal Luft holen
     
    In den Stunden nach Susys Bestattung saß ich allein in dem dunklen Flugzeugrumpf. Den zerschmetterten Kopf in die Hände gestützt, lehnte ich an der schiefen Wand der Fairchild. Machtvolle Gefühle – Unglauben, Empörung, Trauer und Angst – stürmten auf mich ein. Irgendwann jedoch fand ich mich erschöpft mit meinem Kummer ab; es war, als ob ich einen tiefen Seufzer ausstieß. Zu jenem Zeitpunkt war ich so deprimiert und verwirrt, dass ich nicht wahrnahm, mit welch halsbrecherischer Geschwindigkeit ich die Stadien der Trauer durchlief. In meinem alten Leben, meinem Leben in Montevideo, hätte der Tod meiner kleinen Schwester mein ganzes Dasein zum Stillstand gebracht und mich emotional monatelang aus der Bahn geworfen. Aber hier war nichts mehr normal, und mit einem urtümlichen Instinkt begriff ich, dass ich mir an diesem unbarmherzigen Ort den Luxus der Trauer nicht leisten konnte. Wieder einmal hörte ich, wie sich über dem Gefühlschaos in meinem Kopf jene kalte, unerbittliche Stimme erhob. Blick nach vorn , sagte sie. Spare dir deine Kräfte für die Dinge auf, die du ändern kannst.Wenn du dich an die Vergangenheit klammerst, wirst du sterben . Ich wollte meinen Kummer nicht loslassen. Doch es war, als hätte ich in dieser Angelegenheit nichts zu sagen. Während ich in der langen Nacht gegen die Kälte ankämpfte, verblassten meine Empfindungen, und die Gefühle für meine Schwester

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