72 Tage in der Hoelle
schlafen, wo schon kleine Stöße oder Rempeleien ihnen entsetzliche Schmerzen zugefügt hätten. Andererseits konnten sie in ihren schaukelnden Betten auch nicht von der Wärme unserer zusammengedrängten Körper profitieren, und so litten sie stärker unter der Kälte. Dennoch war die Kälte für sie das kleinere Übel.
Rafael gehörte nicht zu den Old Christians, aber er hatte Freunde in der Mannschaft, und die hatten ihn zu der Reise eingeladen. Ich hatte ihn vor dem Flug nicht gekannt, aber in der Maschine war er mir aufgefallen. Er lachte fröhlich mit seinen Freunden und schien mir ein freundlicher, aufgeschlossener Bursche zu sein. Ich mochte ihn sofort, und als ich jetzt sah, wie er sein Leid ertrug, gefiel er mir noch besser. Roberto behielt Rafaels Wunden immer im Blick und behandelte ihn so gut es ging, aber unsere medizinische Ausrüstung war spärlich, sodass er nicht viel tun konnte. Jeden Tag wechselte er die Verbände und wusch die Wunden mit etwas Eau de Cologne, das er gefunden hatte; er hoffte, der Alkoholgehalt würde ausreichen, um eine Infektion der Wunden zu verhindern. Dennoch eiterten Rafaels Verletzungen sofort, und die Haut an seinem Bein wurde bereits schwarz. Gustavo und Roberto hatten den Verdacht auf Wundbrand, aber Rafael gestattete es sich nie, in Selbstmitleid zu versinken. Er behielt Zuversicht und Humor, selbst als das Gift in seinem Körper kreiste und das Fleisch an seinem Bein vor seinen Augen verfaulte. »Ich bin Rafael Echavarren!«, rief er jeden Morgen, »und ich werde hier nicht sterben.« Ganz gleich, wie sehr er litt, er wollte nicht aufgeben. Jedes Mal, wenn ich ihn diese Worte sagen hörte, fühlte ich mich stärker.
Arturo war stiller und ernsthafter. Er war ein Mannschaftskamerad und spielte in der ersten Mannschaft der Old Christians als Verbindungshalb. Ich hatte ihm vor dem Absturz nicht besonders nahe gestanden, aber die Tapferkeit, mit der er sein Leid ertrug, nahm mich für ihn ein. Wie Rafael, so wäre auch Arturo eigentlich ein Fall für die Intensivstation gewesen, wo Fachärzte ihn rund um die Uhr versorgten. Stattdessen lag er hier ohne Antibiotika oder Schmerzmittel mitten in den Anden in einer schaukelnden Hängematte, und als Pfleger hatte er nur ein paar Medizin-Erstsemester sowie eine Gruppe unerfahrener junger Männer. Pedro Algorta, auch er ein Anhänger der Mannschaft, stand Arturo besonders nahe und saß oft stundenlang bei seinem Freund, brachte ihm zu essen und zu trinken und gab sich Mühe, ihn von den Schmerzen abzulenken. Auch wir anderen wechselten uns an seinem Lager ab, und das Gleiche taten wir bei Rafael. Ich freute mich jedes Mal auf die Gespräche mit Arturo. Zu Anfang unterhielten wir uns meistens über Rugby. Das Treten des Balls ist ein wichtiger Teil des Spiels – ein gut platzierter Kick kann den Spielverlauf entscheidend verändern -, und Arturo gehörte zu den stärksten, präzisesten Balltretern unserer Mannschaft. Ich rief ihm ins Gedächtnis, wie er mehrmals in unseren Partien wichtige Kicks platziert hatte, und fragte ihn, wie er den Ball so kühl und exakt treten konnte. Nach meinem Eindruck hatte auch Arturo Spaß an solchen Unterhaltungen. Er war stolz auf seine Fähigkeiten als Kicker und versuchte mehrmals, mir von der Hängematte aus seine Methode beizubringen. Manchmal vergaß er alles und wollte mir mit einem seiner zertrümmerten Beine einen Tritt vorführen, aber das ließ ihn jedes Mal vor Schmerzen wimmern und erinnerte uns wieder daran, wo wir waren.
Als ich Arturo besser kennen lernte, gingen unsere Gespräche auch über den Sport hinaus. Arturo war anders als wir Übrigen. Zum einen war er leidenschaftlicher Sozialist, und mit seinen kompromisslosen Ansichten über den Kapitalismus und die Anhäufung privaten Reichtums wurde er in der Welt des Überflusses und der Privilegien, in der die meisten von uns aufgewachsen waren, zu einem Sonderling. Manche Jungen glaubten, er wolle sich nur wichtig machen – als ob er sich nur aus Oppositionslust schäbig kleidete und mit marxistischer Philosophie beschäftigte. Arturo war kein einfacher Mensch. Er konnte mit seinen Meinungsäußerungen spitz und aufbrausend werden, und damit erwischte er viele von uns auf dem falschen Fuß, aber als ich ihn ein wenig besser verstand, bewunderte ich seine Denkweise. Was mich anzog, waren nicht seine politischen Ansichten – ich hatte in diesem Alter kaum einen politischen Gedanken im Kopf. An Arturo faszinierte mich, dass er
Weitere Kostenlose Bücher