72 Tage in der Hoelle
sein Leben so ernsthaft führte und mit wilder Leidenschaft gelernt hatte, eigenständig zu denken. Er interessierte sich für wichtige Fragen, für Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Mitgefühl und Fairness. Ebenso scheute er sich nicht, alle Regeln unserer konventionellen Gesellschaft infrage zu stellen oder unser Regierungsund Wirtschaftssystem zu verurteilen, das nach seiner Überzeugung den Starken auf Kosten der Schwachen nützte.
Arturos leidenschaftliche Ansichten waren vielen der anderen ein Dorn im Auge, und oft kam es nachts zu heftigen Auseinandersetzungen über Geschichte, Politik oder aktuelle Ereignisse. Ich selbst wollte immer hören, was Arturo zu sagen hatte, und ganz besonders faszinierten mich seine Gedanken über die Religion.Wie die meisten Überlebenden war ich traditionell katholisch erzogen worden, und obwohl ich alles andere als ein praktizierender, gläubiger Katholik war, hatte ich die grundlegenden Lehren der Kirche nie angezweifelt. In den Gesprächen mit Arturo war ich jedoch gezwungen, mich mit meinen eigenen religiösen Überzeugungen auseinanderzusetzen und alle Prinzipien und Werte, die ich bisher nie angezweifelt hatte, auf den Prüfstand zu stellen.
»Es gibt viele heilige Bücher auf der Welt. Wieso bist du so sicher, dass gerade das, an das du nach deiner Erziehung glauben sollst, das einzig wahre Wort Gottes enthält?«, fragte er zum Beispiel. »Woher weißt du, dass deine Vorstellung von Gott die einzig Richtige ist? Wir sind ein katholisches Land, weil die Spanier gekommen sind und die Indianer unterworfen haben, und dann haben sie Jesus Christus an die Stelle des Indianergottes gesetzt. Hätten die Mauren Südamerika erobert, würden wir jetzt nicht zu Jesus, sondern zu Mohammed beten.«
Ich teilte Arturos Auffassung nicht immer, aber sein Denken hatte etwas Faszinierendes. Außerdem begeisterte es mich, dass er bei aller religiösen Skepsis ein sehr spiritueller Mensch war; er spürte meine Wut auf Gott und drängte mich, ich solle mich trotz aller unserer Leiden nicht von Ihm abwenden.
»Was nützt uns Gott?«, erwiderte ich. »Warum hat Er meine Mutter und meine Schwester sinnlos sterben lassen? Wenn Er uns so sehr liebt, warum lässt Er uns dann hier so leiden?«
»Du bist wütend auf den Gott, an den zu glauben du als Kind gelernt hast«, antwortete Arturo. »Auf den Gott, der angeblich über dich wacht und dich beschützt, der deine Gebete erhört und dir deine Sünden vergibt. Dieser Gott ist eine Legende. Die Religionen bemühen sich, Gott zu vereinnahmen, aber Gott steht jenseits der Religion. Der wahre Gott übersteigt unser Begriffsvermögen. Wir können Seinen Willen nicht verstehen; man kann Ihn nicht in einem Buch erklären. Er hat uns nicht aufgegeben, und Er wird uns nicht erretten. Er hat nichts damit zu tun, dass wir hier sind. Gott verändert nicht, Er ist . Ich bete nicht zu Gott um Vergebung oder Vergünstigungen, ich bete nur, um Ihm näher zu sein, und wenn ich bete, füllt sich mein Herz mit Liebe. Wenn ich so bete, weiß ich, dass Gott die Liebe ist . Und wenn ich diese Liebe spüre, erinnere ich mich daran, dass wir keine Engel und keinen Himmel brauchen, weil wir schon ein Teil Gottes sind.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe so viele Zweifel«, sagte ich. »Ich habe das Gefühl, dass ich mir das Recht zum Zweifeln verdient habe.«
»Vertraue auf deine Zweifel«, erwiderte Arturo. »Wenn du den Mut hast, an Gott zu zweifeln und alles infrage zu stellen, was du über Ihn gelernt hast, wirst du vielleicht den wahren Gott finden. Er ist uns nahe, Nando. Ich spüre Ihn überall um uns herum. Mach die Augen auf, dann siehst du Ihn auch.«
Ich sah Arturo an, den glühenden jungen socialista , wie er da in seiner Hängematte lag, die Beine zerbrochen wie Streichhölzer, in den Augen das Leuchten von Vertrauen und Zuversicht, und eine Welle der Zuneigung stieg in mir hoch. Seine Worte bewegten mich zutiefst. Wie konnte ein so junger Mann sich selbst so gut kennen? Im Gespräch mit Arturo musste ich der Tatsache ins Auge sehen, dass ich mein eigenes Leben nie ernst genommen hatte. So vieles war für mich selbstverständlich gewesen – ich hatte nur Mädchen und Autos und Partys im Sinn gehabt und mich von einem Tag zum nächsten treiben lassen. Wozu die Eile? Ich konnte auch morgen noch nachdenken. Es hatte immer ein Morgen gegeben …
Traurig lachte ich in mich hinein und dachte: Wenn es einen Gott gibt und wenn Er mich auf sich aufmerksam
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