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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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sich von einer solchen Frau wünscht: stark, zärtlich, liebevoll, geduldig und sehr tapfer.
    Aber die Berge zeigten mir, dass es viele Formen der Tapferkeit gibt, und in meinen Augen ließen selbst die Stillsten unter uns großen Mut erkennen, einfach weil sie von einem Tag zum anderen lebten. Alle hatten allein durch ihre Gegenwart und die Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit zu dem Gefühl von Gemeinschaft und gemeinsamen Zielen beigetragen, das uns einen gewissen Schutz gegen unsere brutale, erbarmungslose Umwelt bot. Coche Inciarte zum Beispiel schenkte uns seinen lebhaften, respektlosen Scharfsinn und sein warmes Lächeln. Carlitos war ein Quell des ununterbrochenen Optimismus und Humors. Pedro Algorta, ein enger Freund von Arturo, war ein unkonventioneller, eigensinniger und sehr kluger Denker, mit dem ich mich abends gern unterhielt. Einen besonderen Beschützerinstinkt verspürte ich gegenüber Alvaro Mangino, einem liebenswürdigen, sanften Fan unserer Mannschaft; er war einer der Jüngsten in der Maschine gewesen, und ich suchte mir häufig neben ihm meinen Schlafplatz. Ohne Diego Storm, der mich aus der Kälte ins Innere des Wracks gezerrt hatte, als ich noch im Koma lag, wäre ich mit Sicherheit neben Panchito erfroren. Daniel Fernandez, auch er ein Cousin von Fito, war in der Maschine eine feste, gleichmütige Größe und wirkte allein durch seine Gegenwart einer Panik entgegen. Pancho Delgado, ein intelligenter, redegewandter Jurastudent und einer von Marcelos besten Helfern, hielt mit seiner beredten Versicherung, die Retter seien schon unterwegs, unsere Hoffnung aufrecht. Und dann war da noch Bobby François, der uns mit seiner geradlinigen, unumwundenen und fast fröhlichen Weigerung, um sein Leben zu kämpfen, irgendwie bezauberte. Bobby schien nicht in der Lage zu sein, sich auch nur in den einfachsten Dingen selbst zu helfen; rutschte ihm nachts beispielsweise die Decke weg, unternahm er keine Anstrengungen, um sich wieder zuzudecken. Deshalb passten wir anderen auf ihn auf und gaben uns alle Mühe, damit er nicht erfror: Wir prüften seine Füße auf Erfrierungen und sorgten dafür, dass er sich morgens aus dem Bett rollte. Hier in den Bergen waren wir eine große Familie, und ein jeder half, so gut er konnte.
    Trotz der Tapferkeit, die ich in allen offenkundigen und eher versteckten Varianten um mich herum beobachtete, lebte jeder Einzelne von uns jedoch in ständiger Angst, und jeder ging damit auf eigene Weise um. Manche machten ihrer Angst durch Wut Luft, haderten mit dem Schicksal, das uns hier hatte stranden lassen, oder mit den Behörden, die so lange brauchten, um uns zu retten. Andere flehten Gott um Antworten an und beteten um ein Wunder. Und viele waren so gelähmt von ihren Ängsten, von den Kräften, die sich so grausam gegen uns verschworen hatten, dass sie in Verzweiflung verfielen. Diese Jungen ergriffen keinerlei Initiative mehr. Sie arbeiteten nur, wenn man sie dazu zwang, und selbst dann konnte man ihnen nur einfachste Tätigkeiten anvertrauen. Mit jedem Tag schienen sie stärker im Hintergrund zu verblassen; sie wurden immer deprimierter und lustloser, bis einige so apathisch waren, dass sie den ganzen Tag an ihrer Schlafstelle liegen blieben und auf die Rettung oder den Tod warteten, je nachdem, was zuerst kam. Sie träumten von zu Hause und beteten um ein Wunder, aber wenn sie sich im Schatten des Flugzeugrumpfes herumtrieben und sich mit Todesgedanken quälten, waren sie mit ihren stumpfen, tief liegenden Augen bereits zu Gespenstern geworden.
    Diejenigen, die noch stark genug zum Arbeiten waren, gingen mit solchen Jungen nicht immer sanft um. Wir standen alle unter großem Druck, und manchmal war es schwierig, in ihnen etwas anderes als Feiglinge oder Parasiten zu sehen. Die meisten von ihnen waren nicht ernsthaft verletzt, und wir ärgerten uns darüber, dass sie nicht die Willenskraft aufbrachten, mit anzupacken. »Bewegt mal euren Hintern!«, schrien wir sie dann an. »Tut doch was! Ihr seid noch nicht tot!« Diese emotionale Kluft zwischen den Arbeitern und den verlorenen Seelen hätte leicht zu Konflikten führen können – zu Grausamkeiten und Gewalt. Aber aus irgendeinem Grund kam es nie dazu. Wir ließen uns nie zu Beschimpfungen oder Vorwürfen hinreißen. Vielleicht lag es an den vielen gemeinsamen Jahren auf dem Rugbyfeld. Vielleicht hatten die Christian Brothers uns etwas Gutes beigebracht. Jedenfalls waren wir in der Lage, unsere Vorbehalte und Konflikte als

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