72 Tage in der Hoelle
Vorwurf machen. Wenn ein Flugzeug vom Himmel fällt, ist das nicht unsere Schuld.«
»Jeder von uns hat selbst entschieden«, sagte jemand.
»Du bist ein guter Kapitän, Marcelo. Nur nicht den Mut verlieren!«
Aber Marcelo verlor den Mut, und zwar rapide. Mir machte es Sorgen, ihn in einem so elenden Zustand zu sehen. Er war für mich immer ein Held gewesen. Als ich noch zur Grundschule ging, war er bereits bei Stella Maris ein hervorragender Rugbyspieler gewesen, und ich hatte ihn immer gern spielen sehen. Auf dem Spielfeld strahlte er Führungsstärke und Begeisterung aus, und ich bewunderte ihn stets, weil er mit so viel Freude und Selbstvertrauen bei der Sache war. Als ich Jahre später an seiner Seite bei den Old Christians spielte, wurde mein Respekt für seine sportliche Begabung noch größer. Er weckte meine Bewunderung jedoch nicht nur durch sein sportliches Talent. Wie Arturo, so war auch Marcelo anders als wir übrigen, prinzipientreuer, reifer. Er war gläubiger Katholik, hielt sich an alle Lehren der Kirche und bemühte sich nach Kräften, ein tugendhaftes Leben zu führen. Dabei war er kein selbstgerechter Mensch, sondern er gehörte zu den bescheidensten Mitgliedern unserer Mannschaft. Er war von seinem Glauben überzeugt, und oft setzte er seine Autorität und ruhige Ausstrahlung nicht nur ein, um uns zu besseren Mannschaftskameraden zu machen, sondern auch damit wir bessere Menschen wurden. Panchito und mich schalt er beispielsweise ständig wegen unserer unermüdlichen Versessenheit auf das andere Geschlecht. »Es gibt im Leben noch andere Dinge, als Mädchen nachzulaufen«, sagte er dann mit einem schrägen Lächeln. »Ihr müsst ein bisschen erwachsener werden und ernsthaft über euer Leben nachdenken.«
Marcelo selbst hatte sich geschworen, bis zu seiner Hochzeit enthaltsam zu leben, und darüber machten sich die anderen oftmals lustig. Insbesondere Panchito hielt es für lächerlich – keine Frauen, bevor du verheiratet bist? Für Panchito war das, als würde man einem Fisch das Schwimmen verbieten. Aber solche Witze nahm Marcelo auf die leichte Schulter, und ich war immer wieder beeindruckt, wie viel Ernsthaftigkeit und Selbstachtung er ausstrahlte. Er war in vielerlei Hinsicht ganz anders als Arturo, der glühende socialista mit seinen ketzerischen Ansichten über Gott, aber wie Arturo schien er sein eigenes Inneres gut zu kennen. Er hatte eingehend über alle wichtigen Fragen seines Lebens nachgedacht und wusste ganz genau, wo sein Standpunkt war. Für Marcelo war die Welt genau geordnet, und beaufsichtigt wurde sie von einem weisen, liebenden Gott, der versprochen hatte, uns zu beschützen. Unsere Aufgabe war es, Seine Gebote zu befolgen, die Sakramente zu empfangen und sowohl Gott als auch unseren Nächsten zu lieben, wie Jesus es gelehrt hatte. Diese Weisheit bildete die Grundlage seines Lebens und prägte seinen Charakter. Sie gab ihm jenes Selbstvertrauen, das er auf dem Spielfeld zeigte, jene Autorität als Kapitän und jene Ausstrahlung, die ihn zu einer so starken Führungspersönlichkeit machte. Sich einem Mann anzuschließen, der keine Zweifel hat, ist einfach. Wir hatten Marcelo immer völlig vertraut.Wie konnte er versagen – gerade jetzt, wo wir ihn am dringendsten brauchten?
Vielleicht , so dachte ich, war er in Wirklichkeit nie so stark, wie es den Anschein hatte . Aber dann begriff ich es: Marcelo war nicht deshalb zusammengebrochen, weil sein Glaube zu wenig gefestigt, sondern weil er zu stark war. Er glaubte absolut und kompromisslos an die Rettung: Gott würde uns nicht aufgeben. Die Behörden werden nie zulassen, dass wir hier sterben.
Die Nachricht, dass man die Suche aufgegeben hatte, muss sich für Marcelo angefühlt haben, als bräche der Boden unter seinen Füßen auseinander. Gott hatte uns den Rücken zugekehrt, die Welt war auf den Kopf gestellt, und gerade die Eigenschaften, die Marcelo zu einer so großartigen Führungsgestalt gemacht hatten – seine Zuversicht, seine Entschiedenheit, sein unerschütterlicher Glaube an die eigenen Überzeugungen und Entscheidungen -, führten jetzt dazu, dass er den Schlag nicht wegstecken konnte, dass er kein neues Gleichgewicht fand. Seine Selbstsicherheit, die ihm sonst so gute Dienste geleistet hatte, raubte ihm jetzt die Flexibilität, die er gebraucht hätte, um sich auf die seltsamen neuen Regeln unseres Überlebenskampfes einzustellen. Als die Spielregeln sich änderten, zerbrach Marcelo wie ein Glas. Als ich
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