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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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Stimmung noch weiter getrübt: Wir mussten erkennen, dass Marcelo, der voller Selbstzweifel und Verzweiflung war, seine Führungsrolle in aller Stille aufgegeben hatte. Offensichtlich nahm auch kein anderer seinen Platz ein. Gustavo, der anfangs noch Mut und Erfindungsreichtum bewiesen hatte, war nach der Bergtour am Boden zerstört und gewann seine Stärke nicht mehr wieder. Roberto strahlte immer noch Kraft aus, und wir verließen uns gern auf seinen Verstand und seine erfinderische Fantasie, aber er war ein äußerst halsstarriger junger Mann. Mit seiner Reizbarkeit und Streitsucht weckte er bei uns nicht das Vertrauen, das wir in Marcelo gesetzt hatten. Als sich keine starke Führungspersönlichkeit herauskristallisierte, entwickelte sich eine lockerere, weniger formale Form der Führung. Auf der Grundlage früherer Freundschaften, ähnlicher Temperamente und gemeinsamer Interessen entstanden Bündnisse. Die stärkste derartige Allianz war die zwischen Fito und seinen Cousins Eduardo Strauch und Daniel Fernandez. Unter den dreien war Fito der Jüngste und Auffälligste. Er war ein stiller Junge, und am Anfang wirkte er auf mich fast unangenehm schüchtern, aber schon bald erwies er sich als klug und vernünftig. Er hatte begriffen, wie verfahren unsere Situation war, und ich wusste, dass er mit aller Kraft mithelfen wollte, damit wir am Leben blieben. Die drei Vettern standen sich sehr nahe, und da Daniel und Eduardo sich stets Fitos Führung unterordneten, stellten sie eine einheitliche Kraft dar, die großen Einfluss auf unsere Entscheidungen hatte. Das war für uns alle von Nutzen. »Die Vettern«, wie wir sie nannten, verhinderten, dass die Gruppe in Fraktionen zerfiel, was wiederum zu Konflikten geführt hätte. Außerdem konnten sie den meisten anderen begreiflich machen, dass wir unser Schicksal jetzt ausschließlich selbst in der Hand hatten und ein jeder alles daransetzen musste, um zu überleben. Auf diesen Ratschlag und Javiers Bitten hin fing nun auch Liliana an zu essen. Die anderen Enthaltsamen – Numa, Coche und die Übrigen – taten es ihr einer nach dem anderen gleich; dabei sagten sie sich, wenn sie Leben aus ihren toten Freunden bezogen, sei es das Gleiche, als wenn sie bei der Kommunion spirituelle Stärke aus dem Leib Christi bezogen. Ich war erleichtert, dass sie wieder etwas zu sich nahmen, und stellte solche Überlegungen nicht infrage. Für mich jedoch war das Essen dieses Fleisches nicht mehr als das Ergebnis einer harten, pragmatischen Entscheidung, die ich getroffen hatte, um am Leben zu bleiben. Ich war gerührt von dem Gedanken, dass meine Freunde mir noch im Tod das gaben, was ich zum Leben brauchte, aber ich verspürte kein erhebendes Gefühl in dem Sinn, dass ich eine spirituelle Verbindung zu den Toten eingegangen wäre. Meine Freunde waren nicht mehr da. Diese Leichen waren Gegenstände. Wir wären Dummköpfe gewesen, wenn wir sie nicht genommen hätten.
    Im Laufe der Tage gelang uns die Verarbeitung des Fleisches immer besser. Fito und die Cousins hatten die Aufgabe übernommen, es zu zerlegen und zuzuteilen, und dazu hatten sie schon bald ein effizientes System entwickelt. Nachdem sie das Fleisch in kleine Stücke geschnitten hatten, ließen sie es auf Aluminiumfolie in der Sonne trocknen, wodurch es viel besser verdaulich wurde. Wenn wir bei seltenen Gelegenheiten ein Feuer machten, kochten sie es sogar, was seinen Geschmack stark verbesserte. Für mich wurde das Essen im Laufe der Zeit immer einfacher. Einige konnten ihren Widerwillen nicht überwinden, aber wir alle aßen jetzt genug, um den Hungertod in Schach zu halten. Mir zuliebe hatten die anderen versprochen, meine Mutter und meine Schwester nicht anzurühren, aber auch ohne sie würden die Leichen noch für Wochen reichen, wenn wir das Fleisch sorgfältig einteilten. Damit wir noch länger etwas zu essen hatten, aßen wir schließlich sogar die Nieren, die Lebern und die Herzen. Diese inneren Organe waren besonders nahrhaft, und auch wenn es noch so grausig klingen mag, in diesem Stadium der Qualen waren die meisten von uns abgestumpft gegenüber dem entsetzlichen Gedanken, dass ihre Freunde zerlegt wurden wie Rinder.
    Dennoch stillte das Menschenfleisch nie meinen Hunger, und es gab mir meine Kraft nicht wieder. Wie die anderen schwand ich immer noch dahin, und die geringen Nahrungsmengen, die wir uns jeden Tag zugestanden, zögerten das Verhungern nur hinaus. Die Zeit lief uns davon, und ich wusste, dass ich bald

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