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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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werden, bis sie nur noch drei winzige Punkte waren, die über die weiße Fläche des Berges krochen. Sie wirkten so klein und verletzlich wie drei Fliegen, und mein Respekt für ihren Mut wuchs ins Unermessliche.
    Den ganzen Vormittag verfolgten wir sie mit den Blicken, aber irgendwann waren sie nicht mehr zu sehen. Dann hielten wir Wache bis zum späten Nachmittag und suchten auf den weißen Abhängen nach den kleinsten Anzeichen einer Bewegung. Als das Tageslicht schwand, war immer noch nichts von ihnen zu sehen. Dann brach die Dunkelheit herein, und die bittere Kälte zwang uns, Zuflucht im Flugzeugrumpf zu suchen. In dieser Nacht rüttelte heftiger Wind an dem Flugzeug und fegte Schneefahnen durch jede Ritze ins Innere. Während wir uns in unserem engen Quartier aneinanderdrängten und bibberten, waren unsere Gedanken bei den Freunden an dem offenen Berghang. Wir beteten inbrünstig um ihre gesunde Rückkehr, aber die Hoffnung zu bewahren, fiel schwer. Ich versuchte, mir ihre Qualen auszumalen, wie sie dort mit ihrer dünnen Kleidung im Freien festsaßen, ohne jeden Schutz vor dem mörderischen Wind. Mittlerweile wussten wir alle sehr genau, wie der Tod aussieht, und ich konnte mir leicht vorstellen, wie meine Freunde steif gefroren im Schnee lagen. In meiner Fantasie sahen sie aus wie die Leichen, die ich an der Grabstätte neben dem Flugzeug gesehen hatte – mit der gleichen wachsartigbläulichen Haut, gefühllosen, starren Gesichtern sowie einer Eiskruste an Augenbrauen und Lippen, die den Unterkiefer dicker und die Haare weiß machte.
    So sah ich sie, wie sie bewegungslos im Dunkeln lagen, drei weitere Freunde, die erfroren waren. Aber wo genau waren sie gestorben? Diese Frage faszinierte mich. Für den Tod jedes Menschen gibt es einen genauen Ort und eine genaue Zeit. Wann war für mich der Augenblick gekommen? Wo war mein Ort? War es eine Stelle hier in den Bergen, wo ich irgendwann umfallen und wie die anderen für immer tiefgefroren liegen bleiben würde? Gab es für jeden von uns hier eine solche Stelle? War das unser Schicksal – verstreut an diesem namenlosen Ort zu liegen? Meine Mutter und Schwester direkt an der Absturzstelle; Zerbino und die anderen irgendwo an den Abhängen; und wir übrigen, wo würden wir liegen, wenn der Tod uns holte? Was würde passieren, wenn wir erfuhren, dass ein Entkommen unmöglich war? Würden wir einfach hier sitzen und warten, bis wir starben? Und wenn ja, wie würde das Leben für die letzten Überlebenden aussehen, oder, noch schlimmer, für den Allerletzten? Und wenn ich dieser Allerletzte war? Wie lange würde ich bei Verstand bleiben, wenn ich nachts allein in dem Flugzeugrumpf saß, mit Gespenstern als einziger Gesellschaft und mit dem ständigen Heulen des Windes als einzigem Geräusch? Um solche Gedanken zu verscheuchen, beteiligte ich mich an einem Gebet der anderen für die Kletterer, aber im Innersten wusste ich nicht genau, ob ich für ihre sichere Rückkehr betete oder nur für ihr Seelenheil, für unser aller Seelenheil, denn selbst während ich in dem relativ sicheren Flugzeugrumpf lag, wusste ich genau, dass der Tod näher rückte. Es ist nur eine Frage der Zeit, sagte ich zu mir, und vielleicht haben die drei auf dem Berg heute Nacht noch das größte Glück gehabt, weil das Warten für sie vorüber ist .
    »Vielleicht haben sie einen Unterschlupf gefunden«, sagte jemand.
    »Auf diesem Berg gibt es keinen Unterschlupf«, erwiderte Roberto.
    »Aber ihr seid auch da hochgeklettert und habt überlebt«, gab ein anderer zu bedenken.
    »Wir sind bei Tageslicht geklettert, und das war schon schlimm genug«, antwortete Roberto. »Nachts muss es da oben vierzig Grad kälter sein.«
    »Sie sind kräftig«, meinte jemand. Andere nickten und hielten aus Respekt ihre Zungen im Zaum. Marcelo hatte seit Stunden kein Wort gesagt. Jetzt brach er sein Schweigen.
    »Es ist meine Schuld«, sagte er leise. »Ich habe euch alle umgebracht.«
    Wir alle verstanden seine Verzweiflung und hatten so etwas kommen sehen.
    »So darfst du nicht denken, Marcelo«, sagte Fito. »Wir teilen hier alle das gleiche Schicksal. Niemand macht dir einen Vorwurf.«
    »Ich habe das Flugzeug gechartert!«, blaffte er zurück. »Ich habe die Piloten angeheuert! Ich habe die Rugbyspiele organisiert und euch alle überredet, mitzukommen.«
    »Meine Mutter und meine Schwester hast du nicht überredet«, sagte ich. »Das habe ich gemacht, und jetzt sind sie tot. Aber das kann ich mir nicht zum

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