72 Tage in der Hoelle
geschädigten Augen vor dem Licht zu schützen. Dann wies er uns andere an, abwechselnd den dreien die Füße zu massieren. Jemand brachte ihnen eine große Portion Fleisch, und sie aßen mit großem Appetit. Nachdem sie sich ausgeruht hatten, berichteten sie von ihrem Unternehmen.
»Der Berg ist unheimlich steil«, sagte Gustavo. »An manchen Stellen ist es, als würde man an einer Mauer hochklettern. Man muss vor sich in den Schnee greifen und sich hochziehen.«
»Und die Luft ist dünn«, fügte Maspons hinzu. »Man schnauft, das Herz rast. Man macht fünf Schritte und hat das Gefühl, als wäre man einen Kilometer gerannt.«
»Warum seid ihr nicht umgekehrt, bevor es dunkel wurde?«, wollte ich wissen.
»Wir sind den ganzen Tag geklettert und hatten es an dem Abhang erst bis auf halbe Höhe geschafft«, sagte Gustavo. »Wir wollten nicht zurückkommen und euch sagen, dass wir versagt haben. Wir wollten sehen, was hinter den Bergen ist, und gute Nachrichten mitbringen. Also haben wir uns entschlossen, für die Nacht einen Unterschlupf zu suchen und am nächsten Morgen weiterzuklettern.«
Sie erzählten, wie sie in der Nähe eines Felsvorsprungs eine ebene Stelle gefunden hatten. Dort hatten sie sich aus herumliegenden Steinen eine kurze Mauer gebaut und sich dahinter zusammengekauert. Dort, so hofften sie, wären sie nachts vor dem Wind geschützt. Nachdem sie schon so viele Nächte in dem Flugzeugrumpf gefroren hatten, hielten sie es nicht mehr für möglich, dass man noch stärker unter der Kälte leiden kann. Aber sehr schnell stellten sie fest, dass sie sich geirrt hatten.
»Da oben am Berg herrscht eine unbeschreibliche Kälte«, sagte Gustavo. »Die reißt dir das Leben aus. Es tut weh wie Feuer. Ich hätte nicht gedacht, dass wir am nächsten Morgen noch leben.«
Sie erzählten, wie entsetzlich sie in ihrer dünnen Kleidung gelitten hatten. Um die Durchblutung in Gang zu halten, hatten sie sich gegenseitig in Arme und Beine gekniffen, und sie hatten sich ganz dicht zusammengedrängt, um sich gegenseitig zu wärmen. Während die Stunden vorüberschlichen, waren sie überzeugt, dass die Entscheidung, am Berg zu bleiben, sie das Leben kosten würde, aber irgendwie hielten sie bis zur Morgendämmerung durch, und schließlich spürten sie, wie die ersten Sonnenstrahlen den Abhang erwärmten. Erstaunt darüber, dass sie noch am Leben waren, ließen sie sich von der Sonne auftauen und kletterten weiter.
»Habt ihr den Flugzeugschwanz gefunden?«, fragte Fito.
»Wir haben nur Wrackteile und ein paar Gepäckstücke gesehen«, erwiderte Gustavo. Wie er weiter berichtete, hatten sie die Leichen all derer gefunden, die aus der Maschine gefallen waren; viele von ihnen waren noch an den Sitzen angeschnallt. »Das hier haben wir von den Leichen mitgenommen«, sagte er, wobei er ein paar Armbanduhren, Brieftaschen, Heiligenbildchen und andere persönliche Habseligkeiten zum Vorschein brachte.
»Die Leichen lagen ziemlich hoch oben am Berg, aber wir waren immer noch weit vom Gipfel entfernt«, sagte Gustavo. »Wir hatten keine Kraft mehr, um weiterzuklettern, und wir wollten nicht noch eine Nacht dort festsitzen.«
Am späteren Abend, als in dem Flugzeugrumpf alles ruhig war, ging ich zu Gustavo.
»Was habt ihr da oben gesehen?«, erkundigte ich mich. »Konntet ihr hinter die Gipfel schauen? War da irgendetwas Grünes?«
Er schüttelte müde den Kopf. »Die Gipfel sind zu hoch. Man kann nicht weit sehen.«
»Aber irgendetwas müsst ihr doch gesehen haben.«
Er zuckte die Achseln. »Zwischen zwei Gipfeln, ganz in der Ferne …«
»Was hast du da gesehen?«
»Ich weiß nicht, Nando, vielleicht etwas Gelbliches oder Braunes, ich konnte es nicht genau erkennen. Aber eines solltest du wissen: Als wir oben am Berg waren, habe ich zurück auf die Absturzstelle geschaut. Die Fairchild ist ein winziges Pünktchen im Schnee. Man kann sie nicht von einem Felsen oder einem Schatten unterscheiden. Es ist völlig aussichtslos – ein Pilot könnte sie von einem Flugzeug aus nie erkennen.Wir hatten nie eine Chance, gerettet zu werden.«
Nachdem wir wussten, dass man die Suche aufgegeben hatte, waren auch die größten Optimisten unter uns überzeugt, dass wir jetzt auf uns selbst gestellt waren und nur noch eine Überlebenschance hatten: Wir mussten uns aus eigener Kraft retten. Aber nach Gustavos fehlgeschlagenem Unternehmen waren wir entmutigt, und als ein Tag nach dem anderen vorüberging, wurde unsere
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