72 Tage in der Hoelle
eine große Hilfe, und manchmal fragte ich mich, was Fito allein im Gebirge leisten würde, aber er stand eindeutig auf meiner Liste. Das Gleiche galt für Numa Turcatti. Numa hatte mich von Anfang an beeindruckt, und als ein Tag nach dem anderen verstrich, war meine Achtung vor ihm nur noch größer geworden. Numa fiel durch sein stilles Heldentum auf: Niemand kämpfte energischer darum, dass wir am Leben blieben, niemand weckte mehr Hoffnung, und niemand zeigte mehr Mitgefühl für jene, die am meisten zu leiden hatten. Obwohl er für die meisten von uns noch ein ganz neuer Freund war, wurde nach meinem Dafürhalten kein anderer so geschätzt wie er.
Ein weiterer Kandidat war Daniel Maspons, der so mutig mit Gustavo in die Berge gegangen war. Ebenso verhielt es sich mit Coco Nicholich, der mich mit seiner Selbstlosigkeit und Ausgeglichenheit beeindruckt hatte. Auch Antonio Vizintin, Roy Harley und Carlitos Paez waren gesund und kräftig. Und dann war da noch Roberto, der klügste, schwierigste, komplizierteste Mensch von uns allen.
Der Umgang mit Roberto war immer schwierig gewesen. Der Sohn eines bekannten Kardiologen aus Montevideo war ein hochintelligenter, selbstbewusster Selbstdarsteller und hatte keine Lust, irgendwelche Regeln mit Ausnahme seiner eigenen zu befolgen. Mit seinem widersprüchlichen Charakter hatte er in der Schule ununterbrochen Schwierigkeiten, und es schien, als würde seine Mutter ständig in das Büro des Schulleiters bestellt, wo sie wieder einmal ein Gespräch über Robertos Regelverstöße erdulden musste. Er ließ sich einfach nichts sagen. Roberto besaß beispielsweise ein Pferd und ritt damit jeden Morgen zur Schule, obwohl die Christian Brothers ihm mehrmals verboten hatten, das Tier auf das Schulgelände mitzubringen. Roberto setzte sich einfach darüber hinweg. Er band das Pferd am Fahrradständer an, aber es konnte sich von seinem Halfter befreien, und eine Stunde später fanden es die Brüder im Garten wieder, wo es ihre preisgekrönten Stauden und Blumen verzehrte. Er trieb das Tier auch über die belebten Straßen von Carrasco, galoppierte den Bürgersteig entlang und überquerte verkehrsreiche Kreuzungen so schnell, dass die Hufeisen des Pferdes auf dem Pflaster Funken schlugen. Autofahrer rissen das Lenkrad herum, und Fußgänger konnten nur mühsam zur Seite springen. Ständig kamen Beschwerden von den Nachbarn, und die Polizei sprach mehrere Male mit Robertos Vater, doch er ritt weiterhin.
In der Hoffnung, ein konstruktives Ventil für Robertos unbändiges Wesen zu finden, ermunterten ihn die Christian Brothers zum Rugbyspielen, und auf dem Spielfeld war er mit seinem kraftvollen Wesen wahrlich eine eindrucksvolle Gestalt. Er spielte auf dem linken Flügel in der gleichen Position, die Panchito auf dem rechten besetzte, aber während Panchito elegant antäuschte und sich den Weg an den Verteidigern vorbei bis zur Mallinie erarbeitete, erkämpfte sich Roberto lieber mit seiner Kraft einen direkteren Weg durch die gegnerischen Reihen, wobei ein Frontalzusammenstoß auf den anderen folgte. Er gehörte nicht zu unseren größten Spielern, aber seine dicken Beine waren so kräftig, dass sie ihm in Verbindung mit seinem berühmten Durchsetzungswillen den Spitznamen Músculo eingebracht hatten – »Muskel«. Mit seinen stämmigen Gliedmaßen und seiner natürlichen Kampfeslust war Roberto auch für viel größere Gegner ein schwerer Brocken, der schon so manchen hochgewachsenen Möchtegern-Verteidiger das Fliegen gelehrt hatte.
Roberto liebte den Rugbysport, aber anders als die Christian Brothers gehofft hatten, wurde seine Halsstarrigkeit dadurch nicht geheilt. Ob auf dem Spielfeld oder anderswo, Roberto blieb stets Roberto, und oftmals weigerte er sich selbst mitten in einem harten Match, Anweisungen zu befolgen. Unsere Trainer bereiteten uns auf jedes Spiel eingehend vor, und wir anderen gaben uns die größte Mühe, die strategische Planung umzusetzen. Roberto dagegen behielt sich immer das Recht vor, nach Belieben zu improvisieren. In der Regel bedeutete das, dass er den Ball hielt, wenn er ihn abspielen sollte, oder dass er sich kopfüber auf einen Gegner stürzte, wenn die Trainer meinten, er solle in den freien Raum tänzeln.Wenn er sich dann murrend die Strafpredigten der Trainer anhörte, blitzten Verachtung und Ungeduld aus seinen dunkel glänzenden Augen. Es ärgerte ihn, wenn ihm jemand sagte, was er tun sollte. Er hielt seine eigenen Methoden grundsätzlich
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