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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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zu schwach zum Klettern sein würde. Das war mittlerweile meine größte Angst: dass wir zu schwach wurden und schon deshalb nicht mehr hier herauskommen konnten, dass irgendwann alle Leichen aufgegessen waren und wir keine andere Wahl mehr hatten, als an der Absturzstelle dahinzuschwinden, uns in die Augen zu sehen und abzuwarten, welcher unserer Freunde als Nächster zu Nahrung werden würde. Dieses entsetzliche Szenario nahm meine Gedanken ein, und manchmal brauchte ich meine gesamte Selbstdisziplin, um mich nicht über die Wünsche der anderen hinwegzusetzen und mich allein auf den Weg zu machen. Aber die Beinahekatastrophe von Gustavos Expedition hatte mir aufs Neue klargemacht, wie schwierig eine Klettertour werden würde. Wie alle anderen, so war auch ich verblüfft darüber, was die Berge Gustavo angetan hatten, der doch auf dem Rugbyfeld für seine Zähigkeit und Ausdauer bekannt war.Warum sollte ich die Berge bezwingen können, wenn er dazu nicht in der Lage war? In schwachen Augenblicken gab ich mich der Verzweiflung hin. Sieh dir diese Berge an , sagte ich dann zu mir. Es ist unmöglich, wir sind hier gefangen.Wir sind am Ende. All unser Leiden war vergeblich .
    Aber jedes Mal, wenn mich dieses Selbstmitleid überkam, tauchte in meinen Gedanken das Bild meines Vaters auf; er erinnerte mich daran, wie er gelitten hatte und dass ich gelobt hatte, zu ihm zurückzukommen. Hin und wieder, wenn ich die Kälte, den Durst oder das nagende Entsetzen nicht mehr ertragen konnte, spürte ich einen machtvollen Drang, aufzugeben. »Du kannst dem allen hier jederzeit ein Ende machen«, sagte ich mir. »Leg dich einfach in den Schnee. Lass die Kälte an dich heran. Ruh dich einfach aus. Sei still. Hör auf zu kämpfen.«
    Es waren tröstliche, verführerische Gedanken, aber wenn ich zu lange darin schwelgte, meldete sich die Stimme in meinem Hinterkopf. Wenn du kletterst, achte darauf, dass du mit den Fingern immer guten Halt hast.Verlass dich nicht darauf, dass ein Felsen dich trägt, prüfe jeden Schritt. Stochere im Schnee nach versteckten Gletscherspalten. Finde für die Nacht einen guten Schlupfwinkel ...
    Ich dachte ans Klettern, und das erinnerte mich an das Versprechen, das ich meinem Vater gegeben hatte. Ich dachte an ihn und ließ die Liebe zu ihm in mein Herz strömen, und diese Liebe war stärker als mein Leiden oder meine Angst. Nach zwei Wochen im Gebirge hatte die Liebe zu meinem Vater für mich die unwiderstehliche Kraft eines biologischen Triebes angenommen. Ich wusste es genau: Eines Tages würde ich hinaufsteigen müssen, auch wenn ich damit ins Verderben ging. Was spielte es denn noch für eine Rolle? Ich war doch schon ein toter Mann. Warum nicht in den Bergen sterben und dabei um jeden Schritt kämpfen, sodass ich bei meinem Tod der Heimat einen Schritt näher war? Ich war bereit, einem solchen Tod ins Auge zu sehen, aber auch wenn dieser Tod unausweichlich zu sein schien, so spürte ich doch einen Funken Hoffnung, dass ich irgendwie durch die Wildnis stolpern und es bis nach Hause schaffen konnte. Der Gedanke, den Bergen ausgeliefert zu sein, erschreckte mich, andererseits konnte ich es kaum erwarten, endlich aufzubrechen. Ich wusste, dass ich irgendwie den Mut finden würde, mich dem Wagnis zu stellen; und ich wusste auch, dass ich niemals den Mut aufbringen würde, es allein zu tun. Ich brauchte einen Kameraden, der mich bestärkte. Also fing ich an, die anderen zu studieren, ihre Stärken abzuwägen, ihr Temperament, ihre Leistungsfähigkeit in schwierigen Situationen, versuchte, mir auszumalen, welche dieser abgerissenen, hungernden, verängstigten Gestalten ich am liebsten an meiner Seite hätte.
    Vierundzwanzig Stunden früher hätte es auf diese Frage noch eine einfache Antwort gegeben: Meine Wahl wäre entweder auf unseren Kapitän Marcelo gefallen oder auf Gustavo, dessen Charakterstärke ich immer bewundert hatte. Aber jetzt war Marcelo ein einziges Häuflein Elend, und Gustavo war durch den Berg mitgenommen und erblindet. Ich fürchtete, dass keiner von beiden sich rechtzeitig erholen würde, um mit mir zu kommen. Also richtete ich den Blick auf die anderen gesunden Überlebenden, und als ich sie beobachtete, erregten einige sehr schnell meine Aufmerksamkeit. Fito Strauch hatte bei dem ersten Versuch zur Besteigung des Berges seine Tapferkeit bewiesen und sich mit seiner ruhigen, überlegten Art unseren Respekt erworben. Allerdings waren seine Cousins Eduardo und Daniel Fernandez ihm

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