72 Tage in der Hoelle
wirklich begriff, in welchen Schwierigkeiten wir steckten, aber ich bewunderte nach wie vor seinen Mut und Optimismus.
»Du bist stark, Nando«, sagte er. »Du schaffst das. Du wirst Hilfe holen.«
Ich sagte nichts. Carlitos fing an zu beten.
»Alles Gute zum Geburtstag, Carlitos«, flüsterte ich. Dann versuchte ich zu schlafen.
7
Nach Osten
Am Morgen des 1. November ging der Schneesturm endlich zu Ende. Bei klarem Himmel schien die Sonne kräftig, und ein paar Jungen kletterten auf das Dach des Flugzeugrumpfes, um Schnee zum Trinken zu schmelzen. Wir anderen machten uns an die mühsame Arbeit, den tonnenweise im Inneren der Fairchild aufgeschichteten Schnee zu beseitigen. Acht Tage brauchten wir, bis der Rumpf wieder leer war – mit kläglichen Kunststoffschaufeln kratzten wir an dem steinharten Schnee und reichten jeden Eimer von Hand zu Hand durch die Kabine nach hinten, bis wir ihn draußen ausschütten konnten. Als Mitglied des Expeditionsteams war ich offiziell von dieser ermüdenden Arbeit freigestellt, aber ich bestand darauf, mitzumachen. Nachdem jetzt der Termin unserer Tour feststand, fand ich keine Ruhe mehr. Ich musste mich beschäftigen, denn ich fürchtete, Untätigkeit könne meine Entschlossenheit schwächen oder mich in den Wahnsinn treiben.
Während der Flugzeugrumpf wieder bewohnbar gemacht wurde, bereiteten sich meine Expeditionskollegen Numa, Fito und Roberto auf die große Wanderung vor. Aus einem Nylongurt, den sie an einer Hälfte eines Kunststoff-Hartschalenkoffers befestigten, stellten sie einen Schlitten her und luden alle Ausrüstungsgegenstände darauf, die uns nach unserer Einschätzung nützlich sein konnten: Nylonsitzbezüge als Decken, Fitos Sitzpolster-Schneeschuhe, eine Flasche zum Schmelzen von Schnee und anderes. Roberto hatte Rucksäcke angefertigt: Dazu hatte er von Hosen die Hosenbeine abgeschnitten und Nylongurte so hindurchgezogen, dass wir sie auf den Rücken binden konnten. Wir packten weitere Ausrüstungsgegenstände in die Rucksäcke, ließen aber auch noch Platz für das Fleisch, das Fito und seine Cousins für uns abschnitten und im Schnee kühlten. Alle beobachteten wir genau das Wetter und warteten auf Anzeichen, dass der Frühling im Anmarsch war. In der zweiten Novemberwoche sah es dann tatsächlich so aus, als lockere sich der eisige Griff des Winters. Wenn die Sonne schien, herrschten milde Temperaturen von bis zu zehn Grad. An bewölkten Tagen war es immer noch kühl, und schon der leiseste Windhauch machte die Luft schneidend kalt. Die Nächte waren nach wie vor eisig, und immer noch fegten Unwetter über das Gebirge.Vielfach kamen sie ohne Vorwarnung, und kaum etwas machte mir so viel Sorgen wie der Gedanke, im Schneesturm an einem offenen Abhang festzusitzen.
In der ersten Novemberwoche entschlossen wir uns, auch Antonio Vizintin in das Expeditionsteam aufzunehmen. Antonio oder »Tintin«, wie wir ihn nannten, war einer der Kräftigsten von uns. Mit breiten Schultern und Beinen wie Baumstämme spielte er bei den Old Christians eine tragende Rolle, und die füllte er mit der Kraft eines Stiers aus. Außerdem hatte er das Temperament eines Stiers. Tintin konnte ebenso hitzig und anmaßend sein wie Roberto, und ich fürchtete, mit diesen beiden Hitzköpfen an meiner Seite die Katastrophe geradezu herauszufordern. Aber Tintin war nicht so kompliziert wie Roberto, er besaß nicht dessen überbordendes Selbstbewusstsein und hatte nicht das Bedürfnis, allen anderen Befehle zu erteilen. Was die Körperkraft anging, hatte Tintin die Wochen im Gebirge relativ gut überstanden, und trotz meiner Bedenken war ich froh, dass er mit uns kam: Wenn wir uns nicht zu viert, sondern zu fünft auf den Weg machten, stieg nach meiner Überzeugung die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest einer lebend durchkam. Aber kurz nachdem wir dieses neue Mitglied in die Gruppe aufgenommen hatten, verloren wir ein anderes: Fito litt so stark unter Hämorrhoiden, dass ihm das Blut an den Beinen hinunterlief und selbst kurze Gehstrecken zur Qual wurden. Mit solchen Schmerzen konnte er unmöglich das Gebirge überqueren, und deshalb kamen wir überein, dass wir uns zu viert auf den Weg machen wollten. Fito musste zurückbleiben.
Als der Tag des Aufbruchs näher rückte, spürte ich, wie die Stimmung in der Gruppe sich verbesserte. Das Vertrauen in die Erfolgsaussichten des Unternehmens wuchs. Ich teilte diese Zuversicht nicht. Im Innersten war ich immer noch überzeugt, dass es
Weitere Kostenlose Bücher