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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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Gedrängehalb den Ball frei bekommt und der Angriff beginnt, löst sich alles in Leichtigkeit auf. Der erste Pass geht häufig zum beweglichen Verbindungshalb, der die nahenden Verteidiger austrickst und den Spielern hinter sich die nötige Zeit verschafft, um freien Raum zu gewinnen. Kurz bevor er zu Boden gezogen wird, spielt der Verbindungshalb den Ball an den Innendreiviertel weiter; dieser weicht einem Angreifer aus, wird aber vom nächsten zu Fall gebracht, und während er vorwärtsstolpert, spielt er zum nachhängenden Flügelspieler. Jetzt wandert der Ball flott von einem Verteidiger zum nächsten: von der Außen- über die Flügel- zur Mittelposition und wieder zurück, wobei jeder mit Schlägen, Drehungen, Ducken und Drücken vorwärtszukommen versucht, bevor er von den Angreifern zu Boden gezogen wird. Dem Ballträger wird unterwegs übel mitgespielt; wenn der Ball frei hinunterfällt, bildet sich ein Massenauflauf, um jeden Zentimeter wird gekämpft, aber dann findet einer unserer Leute eine Lücke, einen schmalen Lichtspalt, und mit einer letzten Anstrengung lässt er die Verteidiger stehen, hechtet über die Mallinie und erzielt einen Punkt. Mit alledem hat sich die angestrengte, brutale Arbeit des Gedränges in einen wunderschönen Tanz verwandelt. Und kein Einzelner kann die Ehre dafür einheimsen. Der Angriff war Zentimeter für Zentimeter eine Gemeinschaftsleistung, eine Summe vieler Einzelanstrengungen, und ganz gleich, wer den Ball am Ende über die Mallinie trägt, der Triumph gehört uns allen.
    Ich hatte im Gedränge die Aufgabe, hinter der gebückten ersten Reihe zu stehen. Mein Kopf steckte zwischen den Hüften der Vorderleute, meine Schultern pressten sich gegen ihre Oberschenkel, die Arme hatte ich über ihren Hinterteilen ausgebreitet. Sobald der Ball im Spiel war, drückte ich mit aller Kraft und bemühte mich, das Gedränge vorwärtszuschieben. An das Gefühl kann ich mich noch genau erinnern: Anfangs ist es, als wäre der Druck des gegnerischen Gedränges so gewaltig, dass man sich nicht von der Stelle rühren kann. Aber man gräbt sich im Rasen ein, erträgt das Patt, weigert sich, aufzugeben. Ich weiß noch, wie ich in Augenblicken der äußersten Anstrengung nach vorn strebte, bis ich die Beine völlig gestreckt hatte, bis mein Körper tief und parallel zum Boden lag, und wie ich mich dann hoffnungslos gegen eine scheinbar fest gefügte Mauer warf. Manchmal war es, als würde das Patt nie aufhören, aber wenn wir unsere Position hielten und jeder seine Aufgabe erfüllte, ließ der Widerstand in vielen Fällen irgendwann nach, und wie durch ein Wunder kam die unbewegliche Formation doch in Bewegung. Das Bemerkenswerte dabei: In diesem Augenblick des Erfolges kann man die eigene, individuelle Anstrengung nicht von der des ganzen Gedränges trennen. Niemand weiß, wo die eigene Kraft endet und die Bemühungen der anderen beginnen. In einem gewissen Sinn existiert man als Individuum nicht mehr. Einen kurzen Augenblick lang vergisst man sich selbst und wird Teil von etwas, das größer und stärker ist, als man allein sein könnte. Die eigene Anstrengung und der eigene Wille gehen im kollektiven Willen der Mannschaft auf, und wenn dieser Wille sich einheitlich auf etwas konzentriert, rückt die Mannschaft vor: Auf geheimnisvolle Weise kommt das Gedränge in Bewegung.
    Das ist für mich das Wesentliche am Rugby. Keine andere Sportart vermittelt ein so eindringliches Gefühl von Selbstlosigkeit und gemeinsamen Zielen. Nach meiner Überzeugung ist das der Grund, warum die Rugbyspieler auf der ganzen Welt eine solche Leidenschaft für ihr Spiel und ein solches Gefühl der Brüderlichkeit empfinden. Als junger Mann hätte ich solche Dinge natürlich nicht in Worte fassen können, aber ebenso wie meine Mannschaftskameraden wusste ich, dass Rugby etwas ganz Besonderes war, und unter der Anleitung der Christian Brothers entwickelten wir für diesen Sport eine leidenschaftliche Liebe, die unsere Freundschaften und unser Leben prägte. Acht Jahre lang spielten wir uns für die Brüder die Seele aus dem Leib – eine verschworene Gemeinschaft von Jungen mit spanisch klingenden Namen spielte unter dem sonnigen Himmel Uruguays ein Spiel mit angelsächsischen Wurzeln, und voller Stolz trugen wir auf unseren Uniformen das leuchtend grüne irische Kleeblatt. Das Spiel wurde so sehr zu einem Teil unseres Lebens, dass viele von uns mit sechzehn Jahren, als wir in Stella Maris unseren Abschluss machten, den

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