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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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aßen ein wenig Fleisch und schmolzen Schnee zum Trinken. Keiner von uns hatte viel zu sagen. Wir wussten alle, was Sache war.
    »Glaubst du, wir schaffen es bis zum Einbruch der Dunkelheit?«, fragte Roberto, wobei er zum Gipfel blickte.
    Ich zuckte die Achseln. »Wir sollten uns einen Lagerplatz suchen.«
    Ich blickte zur Absturzstelle hinunter. Immer noch konnten wir die winzigen Gestalten unserer Freunde ausmachen. Sie saßen auf den Sitzen aus dem Flugzeug und sahen uns zu. Ich fragte mich, wie das Ganze aus ihrer Perspektive aussehen musste. Konnten sie erkennen, wie verzweifelt wir uns anstrengten? Schwand ihre Hoffnung bereits? Angenommen, wir bewegten uns von einer Stelle nicht mehr weiter:Wie lange würden sie warten, dass wir uns wieder in Bewegung setzten? Und was würden sie tun, wenn das nicht geschah? Solche Gedanken erschienen mir als nüchterne, distanzierte Beobachtungen. Ich befand mich nicht mehr in der gleichen Welt wie die Jungen da unten. Meine Welt hatte sich verengt, und jegliches Mitleid oder Verantwortungsgefühl war jetzt in meiner Angst und meinem wilden Überlebenskampf untergegangen. Ich wusste, dass es Roberto und Tintin genauso erging. Zwar würden wir so lange wie möglich Seite an Seite kämpfen, das war klar, aber ich begriff auch, dass jeder von uns bereits mit seiner Verzweiflung und seinen Ängsten allein war. Der Berg lehrte mich eine harte Lektion: Kameradschaft ist eine edle Sache, aber am Ende ist der Tod ein Feind, dem jeder von uns einsam und allein gegen übertreten muss.
    Ich blickte hinüber zu Roberto und Tintin, die sich benommen auf dem Felsvorsprung ausruhten. »Womit haben wir das verdient?«, murmelte Roberto. Ich blickte den Berg hinauf und suchte nach einem Felsen, der uns nachts als Schutz dienen konnte. Ich sah nichts als eine flache, endlose Schneedecke.
    Je weiter wir uns den Berg hinaufquälten, desto mehr machte die Schneedecke einem immer schwierigeren Gelände Platz. Felsen ragten aus dem Schnee, manche davon so groß, dass man sie unmöglich besteigen konnte. Über uns versperrten gewaltige Grate und Überhänge den Blick auf den weiteren Anstieg, und ich war gezwungen, mir rein instinktiv meinen Weg zu suchen. Oftmals traf ich die falsche Wahl, und dann saß ich plötzlich unter einem unpassierbaren Felsüberhang oder am Fuß einer senkrechten Felswand fest. Meist konnte ich dann umkehren, oder ich arbeitete mich schräg am Hang vor, um einen neuen Weg zu finden. Aber manchmal hatte ich keine andere Wahl, als es dennoch zu versuchen.
    Irgendwann am frühen Nachmittag versperrte eine sehr steile, schneebedeckte Böschung den Weg. An ihrem oberen Rand erkannte ich einen waagerechten Felsvorsprung. Wenn ich nicht schräg über die Böschung aufsteigen und mich auf diesen schmalen Balkon ziehen konnte, würde ich umkehren müssen. Das konnte Stunden kosten, und da der Sonnenuntergang von Minute zu Minute näher rückte, wusste ich, dass es nicht infrage kam. Ich blickte zurück zu Tintin und Roberto. Sie warteten ab, was ich tun würde. Ich sah mir den Abhang genauer an. Es war eine glatte Steigung, an der ich mich nirgendwo festhalten konnte. Aber der Schnee wirkte so, als sei er stabil genug und könne mich tragen. Ich musste beim Klettern die Füße in den Schnee stemmen und das Gewicht weit nach vorn verlagern. Alles war eine Frage des Gleichgewichts.
    Ich fing an, die eisige Wand hinaufzuklettern. Mit den Kanten meiner Schuhe formte ich Tritte, die Brust drückte ich gegen den Berg, um nicht nach hinten zu kippen. Meine Füße fanden guten Halt; ganz vorsichtig schob ich mich bis zu dem Felsvorsprung und turnte auf die ebene Fläche. »Nehmt meine Spuren«, rief ich, »aber seid vorsichtig, es ist sehr steil.«
    Dann wandte ich mich um und machte mich daran, die Böschung über mir zu erklimmen. Kurz darauf sah ich mich um. Roberto hatte den Anstieg geschafft. Jetzt war Tintin an der Reihe. Ich kletterte weiter und hatte vielleicht dreißig Meter hinter mich gebracht, als plötzlich ein Angstschrei am Berg widerhallte.
    »Ich hänge fest! Ich schaffe das nicht!«
    Ich wandte mich um und sah Tintin unbeweglich mitten an dem Abhang stehen.
    »Na los, Tintin!«, schrie ich, »du schaffst das!«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht weiter.«
    »Es liegt an dem Rucksack!«, sagte Roberto. »Der ist zu schwer.«
    Er hatte Recht. Der Rucksack, den Tintin ziemlich weit oben am Rücken trug, zog ihn von der Steilwand weg. Er bemühte sich, sein Gewicht

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