72 Tage in der Hoelle
Einzige, was mich davor schützen konnte, war meine eigene körperliche Leistung. Mein Dasein war auf ein einfaches Spiel reduziert: gut klettern und am Leben bleiben – oder straucheln und sterben. Ich konnte nur noch an eins denken: dass ich den Stein, nach dem ich griff, oder die Kante, auf die ich meinen Fuß setzen wollte, ganz genau und sorgfältig anschauen musste. Ein solches Gefühl der Konzentration hatte ich noch nie empfunden. Noch nie hatte mein Geist in einer so engen Verbindung zu meiner eigenen, animalischen Natur gestanden oder eine so reine, unkomplizierte Zielbewusstheit erlebt.
Setz den linken Fuß dorthin. Ja, diese Kante hält. Jetzt greife mit der rechten Hand nach dem Riss in dem Felsen dort. Ist er fest? Gut. Zieh dich hoch. Dann stell den rechten Fuß auf die Kante. Stehst du sicher?Vertraue auf dein Gleichgewichtsgefühl. Und pass auf das Eis auf!
In der Konzentration ging ich völlig auf. Ängste und Erschöpfung waren vergessen, und eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, als sei alles verschwunden, was mich irgendwann einmal ausgemacht hatte, als sei ich jetzt nichts anderes mehr als nur der reine Wille, weiterzuklettern. Es war ein Augenblick des animalischen Überschwangs.
Noch nie war ich so konzentriert gewesen, so getrieben und auf eine unbändige Weise lebendig. Während dieser erstaunlichen Momente war mein Leiden vorüber, und mein Leben war reines Fließen geworden. Aber der Zustand war nicht von Dauer. Bald meldeten Angst und Erschöpfung sich wieder, und das Klettern wurde erneut zu einer Tortur. Wir befanden uns jetzt hoch oben am Berg; die Höhe erschwerte meine Bewegungen und verlangsamte meine Gedanken. Die Steilhänge stiegen fast senkrecht in die Höhe und waren schwieriger zu erklimmen als je zuvor, aber ich sagte mir, eine solche Steigung könne nur bedeuten, dass der Gipfel nicht mehr weit war. Um mich zu beruhigen, malte ich mir wie so viele Male zuvor aus, was ich von dort oben aus sehen würde: sanfte Hügel, unterteilt in grüne und braune Felder, Straßen, die in die Sicherheit führten, und irgendwo eine Hütte oder ein Bauernhof …
Wie wir weiterkletterten, weiß ich nicht mehr. Ich zitterte unkontrolliert vor Kälte und Müdigkeit. Mein Organismus stand kurz vor dem völligen Zusammenbruch. In meinem Kopf nahmen nur noch die einfachsten Gedanken Gestalt an. Dann sah ich ein Stück über mir die Umrisse eines schräg abfallenden Grats vor dem Hintergrund des blauen Himmels. Darüber war kein Berg mehr. Der Gipfel! »Wir schaffen es!«, rief ich und schleppte mich mit neuer Kraft auf den Grat zu. Als ich mich allerdings über die Kante zog, öffnete sich eine mehrere Meter breite, waagerechte Fläche, und darüber erhob sich wiederum der Berg. Ich hatte mich von der extremen Steigung des Abhanges täuschen lassen.Wieder hatte der Berg mir einen Streich gespielt und mir einen falschen Gipfel vorgegaukelt. Und es sollte nicht der letzte sein. Den ganzen Nachmittag quälten wir uns von einem falschen Gipfel zum nächsten, bis wir einige Zeit vor Sonnenuntergang eine geschützte Stelle fanden und uns entschlossen, dort unser Lager aufzuschlagen.
Als wir an diesem Abend im Schlafsack lagen, war Roberto mürrisch. »Wenn wir weiterklettern, kommen wir ums Leben«, sagte er. »Der Berg ist einfach zu hoch.«
»Aber was sollen wir denn sonst tun?«, fragte ich.
»Umkehren«, erwiderte er. Einen Augenblick lang war ich sprachlos.
»Umkehren und auf den Tod warten?«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Siehst du da drüben am Berg die schwarze Linie? Ich glaube, das ist eine Straße.« Roberto zeigte quer über ein weites Tal auf einen Berg, der viele Kilometer entfernt war.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich, »für mich sieht das aus wie eine Bruchlinie im Gestein.«
»Nando, du kannst ja kaum noch sehen«, schnauzte er zurück. »Ich sage dir, das ist eine Straße.«
»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, wollte ich wissen.
»Ich denke, wir sollten umkehren und der Straße folgen. Die muss schließlich irgendwo hinführen.«
Das war das Letzte, was ich hören wollte. Seitdem wir aufgebrochen waren, hatten mich insgeheim Zweifel und böse Vorahnungen gequält. Tun wir das Richtige?Was ist, wenn die Rettungskräfte kommen, während wir im Gebirge sind? Was ist, wenn die Felder Chiles nicht gleich hinter dem Bergrücken liegen? Robertos Plan hörte sich verrückt an, aber er zwang mich, auch andere Möglichkeiten in Betracht zu
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