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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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Gegenstand und musste sehr vorsichtig behandelt werden. Um die Nähte nicht aufzureißen, zogen wir die Schuhe aus, bevor wir hineinschlüpften.
    »Hast du schon gepinkelt?«, fragte Roberto, als ich mich in die Hülle zwängte. »Wir können nicht die ganze Nacht aus dem Sack hinaus- und wieder hineinkriechen.«
    Jetzt war ich sicher, dass Roberto wieder ganz der alte, mürrische Gefährte war.
    »Ich habe gepinkelt«, erwiderte ich. »Und du? Ich will nicht, dass du in den Schlafsack pinkelst.«
    »Wenn hier irgendjemand in den Schlafsack pinkelt, dann du«, schnaubte er. »Und pass auf mit deinen großen Füßen.«
    Als wir alle drei im Schlafsack lagen, versuchten wir, es uns bequem zu machen, aber der Boden unter uns war sehr hart und steil:Wir standen fast, den Rücken gegen den Berg gepresst und die Füße abgestützt am unteren Rand der Vertiefung. Nur dieser kleine Schneewall verhinderte, dass wir den Abhang hinunterrutschten. Wir waren alle erschöpft, ich war jedoch viel zu verängstigt und durchgefroren, um mich entspannen zu können.
    »Roberto«, sagte ich, »du bist doch hier der Medizinstudent. Wie ist das, wenn man an Erschöpfung stirbt? Tut es weh? Oder tritt man einfach nur weg?«
    Die Frage schien ihn zu ärgern. »Was spielt das für eine Rolle, wie man stirbt?«, sagte er. »Du bist tot, das ist das Einzige, was zählt.«
    Wir schwiegen lange. Der Himmel war jetzt pechschwarz und mit Milliarden leuchtender Sterne übersät, jeder davon fast unwirklich klar und glänzend wie ein Punkt aus Feuer. In dieser Höhe hatte ich das Gefühl, als müsste ich nur den Arm ausstrecken, um sie zu berühren. An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit hätte mich angesichts dieser Schönheit die Ehrfurcht ergriffen. Aber hier und jetzt erschien sie mir wie eine brutale Machtdemonstration. Die Welt zeigte mir, wie winzig klein ich war, wie schwach und unbedeutend. Und wie vergänglich. Ich lauschte auf meinen eigenen Atem und erinnerte mich daran, dass ich, solange ich atmete, noch lebte. Ich gelobte, nicht an die Zukunft zu denken. Ich wollte von Augenblick zu Augenblick und von einem Atemzug zum nächsten leben, bis mein ganzes Leben aufgebraucht war.
     
     
    Es wurde so kalt, dass die Glasflasche, die wir bei uns hatten, zersprang. In dem Schlafsack zusammengedrängt, bewahrten wir uns gegenseitig vor dem Erfrieren, aber wir litten entsetzlich. Morgens stellten wir unsere gefrorenen Schuhe in die Sonne und blieben in dem Sack liegen, bis sie aufgetaut waren. Nachdem wir etwas gegessen und unsere Sachen zusammengepackt hatten, kletterten wir weiter. Es war wiederum ein schöner Tag mit strahlendem Sonnenschein.
    Wir waren jetzt mehr als 4500 Meter hoch, und ungefähr alle hundert Meter näherte die Steigung des Berges sich stärker der Senkrechten an. Die offenen Abhänge waren nicht mehr begehbar, also hielten wir auf die Felskanten der gewundenen Schluchten zu, die in den Flanken des Berges klafften. Erfahrene Bergsteiger wissen, dass solche Bergschluchten tödliches Gelände sein können – mit ihrer Form werden sie zu Kanälen für alle Steine, die den Berg hinunterstürzen -, aber der zusammengepresste Schnee in ihnen bot unseren Füßen guten Halt, und die hohen Felswände an ihren Rändern waren etwas Festes, wonach man greifen konnte.
    Hin und wieder führte uns die Kante einer solchen Rinne an einen unpassierbaren Punkt. Dann bahnte ich mir den Weg durch die schneegefüllte Mitte der Schlucht auf die andere Seite. Während wir durch die Schluchten stiegen, beunruhigte mich die tödliche Leere hinter mir immer stärker. Vielleicht war es die schwindelerregende Höhe, vielleicht auch die Müdigkeit oder ein Streich meines sauerstoffhungrigen Gehirns: Die Leere hinter meinem Rücken war nicht mehr nur eine passive Gefahr, sie bedrohte mich vielmehr förmlich. Eines wusste ich ganz genau: Wenn ich mich ihr nicht mit aller Kraft widersetzte, würde sie mich vom Berg locken und den Steilhang hinunterstoßen. Der Tod tippte mir auf die Schulter, und der Gedanke daran machte mich langsam und zögerlich. Ich überlegte mir jede Bewegung zweimal und verlor das Vertrauen in mein Gleichgewichtsgefühl. Mit quälender Klarheit erkannte ich, dass es hier keine zweite Chance gab, keine Fehlertoleranz. Ein falscher Tritt, ein unaufmerksamer Augenblick, ein falsches Urteil, und ich würde geradewegs in die Tiefe stürzen. Diese Leere übte eine stetige Anziehungskraft aus. Sie wollte mich holen, und das

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