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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen, ihn aber auch empören und verhärten. Einer meiner Mitgefangenen, ein geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre lang weiter nichts als alte ‚Frauendorfer Blätter‘ zu lesen bekommen, trockene Unterweisungen im Gartenbau, die ihn weder interessieren noch ihm irgendeinen Nutzen bringen konnten. Er trug es in steigender Erbitterung, bis ich die Bibliothek überkam und ihm Passenderes gab. Einen Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias Gotthelfs Erzählungen derart außer sich gebracht, daß er nahe daran stand, wegen Ungebühr bestraft zu werden. Das letzte, was er hatte lesen müssen, hatte den Titel gehabt ‚Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen‘. Als ich ihm einen Band von Edmund Höfer gab, war er so froh, als ob ich ihm ein Vermögen geschenkt hätte. Ein sozialdemokratischer Klempnermeister war einer langen Reihe von Erbauungsbüchern zum Opfer gefallen. Er schwor wütend zu, daß es schon um dieser Bücher willen keinen Herrgott geben könne. Er habe nur aus bitterer Not Bankrott gemacht; die Verfasser und Herausgeber dieser Schriften aber seien aus Selbstgerechtigkeit und Übermut bankrott und verdienten wenigstens dieselbe Gefängnisstrafe wie er.
    Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich zunächst meine Bibliothek und sodann auch die Bedürfnisse ihrer Leser kennenzulernen hatte. Das war mit ernsten und schwierigen psychologischen Erwägungen verbunden und führte zu dem betrübenden Schlußresultat, daß eigentlich solche Bücher, wie wir sie brauchten, nur ganz wenige vorhanden waren. Sie fehlten nicht nur in unserer Gefängnisbibliothek, sie fehlten auch überhaupt in der Literatur. Ich dachte an meine Knabenzeit, an die Traktätchen, die ich da gelesen und an den Schund, der mich da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich verglich. Da dämmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind nur die Bewohner der Strafanstalten detiniert? Ist nicht eigentlich jeder Mensch ein Gefangener? Stecken nicht Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu fühlbar vorhanden sind? Ist es nur für die Bewohner der Strafanstalt der Leib, der gebändigt werden muß, damit der höhere, von oben stammende Teil unseres Wesens zur Geltung kommen möge? Muß nicht überhaupt bei allen Sterblichen, also bei der ganzen Menschheit, alles Niedrige gefesselt werden, damit die hierdurch die Freiheit gewinnende Seele sich zum höchsten irdischen Ideal, zur Edelmenschlichkeit, erheben könne? Und sind es nicht die Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher Tiefe zu solcher Höhe führen sollen? Die Literatur, der auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene mit angehöre!
    Auf diesem Gedankenpfad weitergehend, gelangte ich zu Betrachtungen und Schlüssen, die scheinbar höchst seltsam, im Grunde genommen aber ganz natürlich waren. Es wurde zwischen meinen vier engen Wänden hell; sie weiteten sich. Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich erkannte ich die zwar verborgenen aber doch innigen Zusammenhänge zwischen dem Kleinsten und dem Größten, dem Körperlichen und dem Seelischen, dem Leiblichen und dem Geistigen, dem Endlichen und dem Unendlichen. Das war der Zeitpunkt, an dem ich begann, die lieben, alten Märchen meiner Großmutter in ihrer tiefen Bedeutung zu begreifen. Ich lag nächtelang wach und dachte nach. Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten, verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht und alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan empor. Ich stellte mir vor, die verlorengegangene Menschenseele zu sein, die niemals wiedergefunden werden kann, wenn sie sich nicht selbst wiederfindet. Dieses Wiederfinden kann nie hoch oben in Dschinnistan, sondern nur hier unten in Ardistan geschehen, im Erdenleid, in der Menschheitsqual, bei der Träberkost des verlorenen Sohnes unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie begann, das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen und festhalten zu können. Es wohnte und lebte in mir. Aber nicht nur da, sondern auch außerhalb, allüberall, in jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als Großes und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine Marah Durimeh, die große, herrliche Menschheitsseele, der ich die Gestalt meiner geliebten Großmutter gab. Da tauchte zum ersten Mal mein Tatellah-Satah in mir auf, jener geheimnisvolle ‚Bewahrer der großen Medizin‘, den meine Leser

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