74 - Mein Leben und Streben
jener Dichter, zu denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen, wollte ich sein! Ich weiß gar wohl, welche Kühnheit des war. Doch gestehe ich es, ohne mich zu fürchten. Die Wahrheit ist so verhaßt und das Märchen so verachtet, wie ich selbst es bin; wir passen zueinander. Das Märchen und ich, wir werden von Tausenden gelesen, ohne verstanden zu werden, weil man nicht in die Tiefe dringt. Wie man behauptet, daß das Märchen nur für Kinder sei, so bezeichnet man mich als ‚Jugendschriftsteller‘, der nur für unerwachsene Buben schreibe. Kurz, ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen, daß ich so verwegen gewesen bin, nur ein Märchen- und Gleichnisschriftsteller sein zu wollen. Gleicht doch mein ‚Leben und Streben‘ schon an und für sich selbst einem Märchen, und sind es doch fast unzählige Fabeln und Märchen, mit denen meine Person von gegnerischer Seite umkleidet worden ist! Und wenn ich mich dagegen verwahre, so glaubt man mir ebensowenig, wie mancher dem Märchen glaubt. Aber, wie jedes echte Märchen doch endlich einmal zur Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur Wahrheit werden, und was man mir heut nicht glaubt, das wird man morgen glauben lernen.
Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie sollten etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag. Ich wollte Neues, Beglückendes bringen, ohne meine Leser mit dem Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu verwickeln. Und was ich zu sagen hatte, das mußte ich suchen lassen; ich durfte es nicht offen vor die Türen legen, weil man alles, was man so billig bekommt, liegen zu lassen pflegt und nur das zu schätzen weiß, was man sich mühsam zu erringen hat. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen, gleich von vornherein anzudeuten, daß meine Reiseerzählungen bildlich zu nehmen seien. Man hätte mich einfach nicht gelesen, und alles, was ich lösen wollte, wäre Fabel und Märchen geblieben. Der Leser mußte ungeahnt finden, was ich gab; er betrachtete es dann als selbst erlebt und hielt es für das Leben selbst.
Aber was war denn eigentlich das, was ich geben wollte? Das war vielerlei und nichts Alltägliches. Ich wollte Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsrätsel lösen. Man lache mich aus; aber ich habe es gewollt; ich habe es versucht und werde es weiter versuchen. Ob ich es erreiche, kann weder ich noch ein anderer wissen. Es mag bei der Ausführung dann wohl mancher Fehler untergelaufen sein, denn ich bin ein irrender Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein gewesen. Ich wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur Veröffentlichung bringen. Ein junger Lehrer, der bestraft worden ist, seine psychologischen Erfahrungen? Ist das nicht noch lächerlicher als das Vorhergehende? Mag man es dafür halten; ich aber habe an hundert und wieder hundert unglücklichen Menschen gesehen, daß sie nur darum in das Unglück geraten waren und nur darum darin stecken blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen der ganzen irdischen Schöpfung, vollständig vernachlässigt worden waren. Der Geist ist das verzogene, eingebildete Lieblingskind, die Seele das zurückgesetzte, hungernde und frierende Aschenbrödel. Für den Geist sind alle Schulen da, von der ABC-Schützen-Schule bis hinauf zur Universität, für die Seele aber keine einzige. Für den Geist werden Millionen Bücher geschrieben, wie viele für die Seele? Dem Menschengeist werden tausend und abertausend Denkmäler gesetzt; wo stehen die, welche bestimmt sind, die Menschenseele zu verherrlichen? Wohlan, sage ich mir, so will ich es sein, der für die Seele schreibt, ganz nur für sie allein, mag man darüber lächeln oder nicht! Man kennt sie nicht. Darum werden viele meine Werke entweder nicht oder falsch verstehen, aber das soll mich ja nicht hindern, zu tun, was ich mir vorgenommen habe.
Das war eigentlich genug für einen Menschen; aber ich wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr. Ich sah um mich herum das tiefste Menschenelend liegen; ich war für mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch über uns lag die Erlösung, lag die Edelmenschlichkeit, nach der wir emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war aber nicht allein die unsrige, sondern sie ist allen Menschen erteilt; nur daß wir, die wir um soviel tiefer lagerten als die andern, weit mehr und weit mühsamer aufzusteigen hatten als sie. Aus der Tiefe zur Höhe, aus Ardistan nach Dschinnistan, vom niedern
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