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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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tief wie möglich auszuschöpfen! Ich ging von Zwickau nach Ernsttal, also genau denselben Weg, den ich damals als Knabe gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es läßt sich denken, was für Gedanken mich auf diesem Weg begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimweg mit dem Vater den Vorsatz gefaßt, ihn nie wieder durch Derartiges zu betrüben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten! Sollte ich heut etwa ähnliche Vorsätze fassen, für deren Erfüllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewähr zu leisten vermag? Das ‚Märchen von Sitara‘ tauchte vor mir auf. Gehörte ich vielleicht zu denen, auf deren Seelen, wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um sie in das Elend zu schleudern, so daß sie verlorengehen? Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; sie sind dem Untergang geweiht. Gilt das auch mir?
    Meine Gedanken wurden trüber und trüber, je mehr ich mich der Heimat näherte. Es war, als ob mir von dort aus böse Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe Zuversicht schien mich verlassen zu wollen; ich mußte mir Mühe geben, sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Höhe aus schaute ich über das Städtchen hin. Da schlängelten sich vor meinen Augen die Wege, die ich damals so oft gegangen war, in heißem Kampf mit jenen fürchterlichen inneren Stimmen liegend, die mir Tag und Nacht hindurch in einem fort die Worte ‚des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch‘ zuriefen. Und was war das? Indem ich hieran dachte, hörte ich ganz dieselben Stimmen erklingen, in mir, ganz deutlich, wie erst nur von weitem, aber sie schienen sich zu nähern, ‚des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!‘ Sollte und wollte sich das etwa wiederholen? Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte von dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die Höhe hinab, durch das Städtchen hindurch, nach Hause, nach Hause, nach Hause!
    Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern wohnten noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg die Treppe empor und dann gleich noch eine zweite hinauf nach dem Bodenraum, wo Großmutter sich immer am liebsten aufgehalten hatte. Ich wollte zunächst zu ihr und dann erst zu Vater, Mutter und Geschwistern. Da sah ich die wenigen Sachen, die sie besessen hatte; sie selbst aber war nicht da. Da stand ihre Lade, mit blauen und gelben Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der Schlüssel abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war leer. Ich eilte hinab in die Wohnstube. Da saßen die Eltern. Die Schwestern fehlten. Das war Zartgefühl. Sie hatten gemeint, die Eltern gingen vor. Ich grüßte gar nicht und fragte, wo Großmutter sei.
    „Tot – gestorben!“ lautete die Antwort.
    „Wann?“
    „Schon voriges Jahr.“
    Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme auf den Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir verschwiegen, um mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft nicht noch zu erschweren. Das war ja recht gut gedacht; nun aber traf es mich um so wuchtiger. Sie war nicht eigentlich krank gewesen; sie war nur so hingeschwunden, vor Gram und Leid um – mich!
    Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob, um die Eltern nun zu grüßen. Sie erschraken. Sie sagten mir später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen als dasjenige einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu. Sie freuten sich des Wiedersehens, aber sie schauten mich so sonderbar an, so scheu. Das war nichts weiter als der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich gab mir zwar die größte Mühe, aber ich konnte den Schlag, der mich soeben getroffen hatte, doch nicht ganz verbergen. Ich wollte nur von Großmutter wissen, jetzt weiter nichts, und man erzählte mir. Sie hatte sehr viel von mir gesprochen, aber niemals ein Wort, welches mich hätte kränken müssen, wenn ich dabeigewesen wäre. Und sie hatte nie geklagt oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun wisse sie, daß ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer Geburt zur falschen Stelle geschleudert werden, um dort vernichtet zu werden. Nun sei sie überzeugt, daß ich durch die Geisterschmiede müsse, um alle irdischen Qualen über mich ergehen zu lassen. Aber sie wisse, ich werde nicht schreien, ich werde tragen, was zu tragen ist, und mir den Weg nach Dschinnistan erzwingen. Je näher sie dem Tod kam, desto ausschließlicher lebte sie nur noch ihrer Märchenwelt und desto ausschließlicher sprach sie nur noch von mir. An einem der letzten Tage erzählte sie, daß der längst verstorbene Herr Kantor

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