74 - Mein Leben und Streben
sie. Sie zog die Kammertür schnell hinter sich zu und sagte aufgeregt, aber leise:
„Um Gottes willen! Du? Hat jemand dich kommen sehen?“
„Nein“, antwortete ich.
„Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! Nach Amerika hinüber! Daß man dich nicht erwischt! Wenn man dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!“
„Fort? Warum?“ fragte ich.
„Was hast du getan; was hast du getan! Dieses Feuer, dieses Feuer!“
„Was ist es mit dem Feuer?“
„Man hat dich gesehen! Im Steinbruch – im Wald – auf dem Feld – und gestern auch bei dem Haus, bevor es niederbrannte!“
Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!
„Mut – ter! Mut – ter!“ stotterte ich. „Glaubst du etwa, daß –“
„Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater auch“, unterbrach sie mich. „Alle Leute sagen es!“
Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer Lasten. Sie fuhr in demselben Atem fort:
„Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor allen Dingen nicht hier bei uns im Haus! Geh, geh! Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht sagen, daß du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du bist; ich darf dich nicht länger sehen! Geh also, geh! Wenn es verjährt ist, kommst du wieder!“
Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von mir zu warten. Ich war allein und griff mir mit beiden Händen nach dem Kopf. Ich fühlte da ganz deutlich die dicke Lehm- und Häckselschicht. Dieser Mensch, der da stand, war doch nicht etwa ich? An den die eigene Mutter nicht mehr glaubte? Wer war der Kerl, der in seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung aussah wie ein Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort!
Ich habe noch soviel Verstand gehabt, den Kleiderschrank zu öffnen und einen andern, sauberen Anzug anzulegen. Dann bin ich fortgegangen. Wohin? Die Erinnerung läßt mich im Stich. Ich war wieder krank wie damals. Nicht geistig, sondern seelisch krank. Die inneren Gestalten und Stimmen beherrschten mich vollständig. Wenn ich mir Mühe gebe, mich auf jene Zeit zu besinnen, so ist es mir wie einem, der vor fünfzig Jahren irgendein Theaterstück gesehen hat und nach dieser Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu Augenblick geschah und wie die Kulissen sich verwandelten. Einzelne Bilder sind mir geblieben, doch so undeutlich, daß ich nicht behaupten kann, was wahr daran ist und was nicht. Ich habe in jener Zeit jenen dunklen Gestalten gehorcht, welche in mir wohnten und mich beherrschten. Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen unglaublich. Man beschuldigte mich, einen Kinderwagen gestohlen zu haben! Wozu? Ein leeres Portemonnaie mit nur drei Pfennigen Inhalt! Anderes ist schon glaublicher und einiges direkt erwiesen. Man hatte mich festgenommen, und wo etwas geschehen war, da transportierte man mich als ‚hoffentlichen Täter‘ hin. Das war eine hochinteressante Zeit für die Habitues der Ernsttaler Lügenschmiede. Da wurde fast täglich Neues erzählt oder Altes variiert, was ich begangen haben sollte. Jeder Vagabund, der in den Ortsbereich dieser Märchen kam, legte sich meinen Namen bei, um auf meine Rechnung hin zu sündigen. Das war selbst für einen äußerlich und innerlich Gefangenen zuviel. Ich zerbrach während eines Transportes meine Fesseln und verschwand. Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Band, in dem ich von meinen Reisen erzähle, ausführlich zu berichten. Für jetzt ist nur dasselbe wie früher zu erwähnen, nämlich, daß ich seelisch um so freier wurde, je weiter ich mich von der Heimat entfernte, daß mich draußen in der Ferne ein unwiderstehlicher Trieb zur Heimkehr packte und daß ich innerlich wieder um so freier wurde, je mehr ich mich der Gegend meines Geburtsortes näherte. Gibt es jemand, der das zu ergründen vermag? Ich folgte teils jenem unbegreiflichen Zwang, teils kehrte ich freiwillig zurück, und zwar um meiner guten Pläne und um meiner Zukunft willen. Hatte ich gesündigt, so hatte ich zu büßen; das verstand sich ganz von selbst. Und bevor diese Buße nicht erledigt war, konnte es für mich keine ersprießliche Arbeit und keine Zukunft geben. Ich kehrte also nach fünf Monaten wieder heim, um mich dem Gericht zu stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es richtig gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren Gewalten, die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu tun, was ich mir
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