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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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wurden geprüft. Warum keiner von ihnen genommen wurde, das weiß ich nicht. Sie waren alle länger da als ich, hatten also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches zur Bekleidung einer solchen Stelle gehört. Ich aber war mit nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte der zukünftigen Polizeiaufsicht unmöglich entgehen und hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, daß ich trotzdem Vertrauen verdiente. Hier liegt die Ursache für mich, keinen Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen. Der Katechet kam in meine Zelle, unterhielt sich eine Weile mit mir und ging dann fort, ohne mir etwas zu sagen. Einige Tage später kam auch der katholische Geistliche. Auch er entfernte sich nach kurzer Zeit, ohne daß er sich über den Grund seines Besuchs äußerte. Aber am nächsten Tag wurde ich in die Kirche geführt, an die Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt und mußte spielen. Die Herren Beamten saßen unten im Schiff der Kirche so, daß ich sie nicht sah. Bei mir war nur der Katechet, der mir die Aufgaben vorlegte. Ich bestand die Prüfung und mußte vor dem Direktor erscheinen, der mir eröffnete, daß ich zum Organisten bestellt sei und mich also sehr gut zu führen habe, um dieses Vertrauens würdig zu sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr viel für mich und mein Innenleben entwickelte.
    Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer katholischen Kirche! Das brachte mir zunächst einige Bewegungsfreiheiten innerhalb der Anstaltsgebäude. Man konnte mir doch keinen Aufseher mit an die Orgel stellen! Aber es brachte mir noch mehr, nämlich Achtung und diejenige Rücksichtnahme, nach der ich in Beziehung auf gewisse Äußerlichkeiten strebte. Der Aufseher unserer Visitation war ein stiller, ernster Mann, der mir sehr wohlgefiel; als er im Meldebuch las, daß ich katholischer Organist geworden sei, kam er verwundert in meine Zelle, um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen Einlieferungsakten ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen. Da sah er mich groß an und sagte:
    „Das ist noch gar nicht dagewesen! Da mußt du – hm, da müssen Sie sehr musikalisch sein!“
    Die Gefangenen werden natürlich ‚Du‘ genannt; von jetzt an aber sagte er ‚Sie‘, und andere taten ihm das nach. Das war eine scheinbar kleine, aber trotzdem sehr wertvolle Errungenschaft, weil aus ihr vieles andere folgerte. Bald stellte sich zu meiner freudigen Überraschung heraus, daß mein Aufseher der Dirigent des Bläserkorps war. Ich erzählte ihm von meiner musikalischen Beschäftigung in Zwickau. Da brachte er mir schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu erteilen. Ich bestand auch diese Prüfung, und von nun an war dafür gesorgt, daß ich nicht verhindert wurde, in meiner freien Zeit nach meinen Zielen zu streben. Dieser Aufseher ist mir ein lieber, väterlicher Freund gewesen, und wir haben, als er später pensioniert war und nach Dresden zog, noch lange in lieber, achtungsvoller Weise miteinander verkehrt.
    Der katholische Katechet hieß Kochta. Er war nur Lehrer, ohne akademischen Hintergrund, aber ein Ehrenmann in jeder Beziehung, human wie selten einer und von einer so reichen erzieherischen, psychologischen Erfahrung, daß das, was er meinte, einen viel größeren Wert für mich besaß, als ganze Stöße von gelehrten Büchern. Nie sprach er über konfessionelle Dinge mit mir. Er hielt mich für einen Protestanten und machte nicht den geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung einzuwirken. Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich zu ihm. Nie habe ich ihm eine Frage nach dem Katholizismus vorgelegt. Was ich da wissen mußte, das wußte ich bereits oder konnte es in anderer Weise erfahren. Mir war das schöne Verhältnis heilig, das nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne daß sich störende Gegensätze in das rein menschliche Wohlwollen schleichen durften. Er tat seinen Kirchendienst, ich meinen Orgeldienst, aber im übrigen blieb die Religion zwischen uns vollständig unberührt und konnte also um so direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein Schweigen war so beredt, denn es ließ seine Taten sprechen, und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das kleinste groß zu nehmen weiß.
    Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt lernte ich sie kennen. Was für Orgel- und sonstige Musikstücke bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt,

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