77 Tage
rauschte. Die Schritte der jungen Patientin waren unsicher und eckig und sie beugte den Oberkörper weit nach vorn. Wie Hedi umfasste auch ich mit beiden Händen ihren Oberarm. Ich konnte die Anstrengung spüren, die die zuckende Muskelanspannung sie bei jedem Schritt kostete.
Wie hatte Pippi Langstrumpf nur ihre Superkräfte verlieren können? Das ging doch nicht, wie sollte sie denn ihr Pferd von der Veranda heben?
Plötzlich knickte Frau Schröder ein Bein weg und ihr Körper sackte zur Seite.
Ich hatte von schwedischen Märchen geträumt und brauchte einen Sekundenbruchteil zu lange, um zu begreifen, dass das der Zeitpunkt für meinen Einsatz gewesen wäre. Die Frau kippte in meine Richtung, wir stießen unsanft zusammen, bevor ich endlich meinen Griff fest um ihren Oberarm schloss und ihren Fall abbremste.
Zum Glück hatte Hedi prompt reagiert, sonst wären wir alle drei im Rosenöl-Schaumbad gelandet. Erschrocken umklammerte ich Frau Schöders Arm noch fester, gute zehn Sekunden zu spät. In zehn Sekunden konnte sich Pippi Langstrumpf das Genick brechen! Meine Tagträumerei ließ ich während der Arbeit besser bleiben.
»Sorry«, murmelte Frau Schröder, die ja nun gar nichts dafür konnte, dass ich gepennt hatte.
Pippi Langstrumpf umarmte Hedi wie ein Kind seine Oma. Die große Pflegerin hob behutsam erst das rechte, dann das linke Bein der Patientin in die Badewanne. Ich stand überflüssig daneben.
Ziemlich einfach sah das bei Hedi aus, dabei wog Frau Schröder um einiges mehr als der Pflegekoffer.
»Melden Sie sich, wenn Sie Hilfe brauchen«, empfahl Hedi der jungen Frau, »ich lasse die Tür offen.«
Ein Lächeln huschte über Pippi Langstrumpfs Gesicht, zum ersten Mal.
»Eigentlich müssen wir bei ihr bleiben.« Hedi setzte sich in dem chaotischen Wohnzimmer zwischen einige Umzugskartons aufs Sofa. »Aber sie möchte gern allein baden und ihre Arme funktionieren noch ganz gut.«
Unter einem Pappkarton auf dem Couchtisch zog Hedi einen Schnellhefter aus Plastik hervor. »Fürs Baden oder Duschen haben wir fünfundzwanzig Minuten Zeit, das sind feste Sätze, die für alle Pflegeeinrichtungen gelten. Wir müssten Frau Schröder also in spätestens vier Minuten wieder aus der Wanne holen, um mit dem Anziehen fertig zu werden.«
»Wie bitte?«
»Wir gönnen ihr aber eine Viertelstunde!«, rief Hedi laut in Richtung Badezimmer.
»Find ich korrekt von Ihnen«, antwortete Pippi Langstrumpf aus der Wanne.
»Für solche Verzögerungen haben wir jeden Tag eine halbe Stunde Luft in unseren Tourplänen. Es hat Anna ziemlich viel Mühe gekostet, der Chefin diese halbe Stunde als geschäftsförderndes Qualitätskriterium zu verkaufen. Zeit ist bares Geld in unserem Job und die van Pels fuchst um jeden Pfennig. Aber Anna hat es durchgeboxt und deshalb können wir uns jetzt in Ruhe um die Akte kümmern. Wir dokumentieren Medikamentengaben, Unfälle und Verletzungen, Stuhlgang und wöchentliche Leistungen wie zum Beispiel das Baden. Dann bleiben andere betreuende Personen, wie der behandelnde Arzt, auf dem Laufenden.«
Ich erinnerte mich an die Diskussion, die das Pflegeteam in der Dienstbesprechung führte, als Danner und ich vorgestellt wurden. »Und reicht so eine halbe Stunde mehr Zeit am Tag aus?«
Hedi zog die hängenden Mundwinkel noch ein Stück weiter nach unten. »Den Jüngeren ja.«
»Und dir?«
Hedi seufzte.
»Du machst meistens länger, hm?«, vermutete ich.
»Ich kenne die Arbeit noch anders«, gestand die große Pflegerin. »Früher gab es diese Zeiteinteilung nicht. Wenn du dich wirklich dran halten willst, guckst du nur noch auf die Uhr. Du hetzt dich selbst und die alten Leute. Und die werden unglücklich oder gereizt.« Hedi aktualisierte nebenbei die Daten in der Akte. »Vor zwei Jahren habe ich geglaubt, ich wäre ein Fall für die Frührente. Aber ich mache meine Arbeit gern, und das wollte ich mir nicht von Vorschriften kaputtmachen lassen.«
Hedis Ärger ließ ihre Aussprache schlechter werden. Ich musste mich konzentrieren, um sie zu verstehen.
»Damals habe ich beschlossen, mich einfach nicht mehr hetzen zu lassen. Ich nehme mir die Zeit, die ich für meine Tour brauche. Und wenn das bedeutet, dass ich zwei Überstunden am Tag mache, dann ist das eben so. Basta.«
Hedis kurzer Ärger verpuffte wie ein Maiskorn in der Mikrowelle, als sie mein erstauntes Gesicht sah.
»Du kannst natürlich pünktlich Feierabend machen«, lächelte sie milde.
Was für ein Glück.
»Agi
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