77 Tage
verpasst. Warum kann ich meinen Mund nicht aufmachen? Warum kann ich nicht zu einer Entscheidung stehen? Nicht mal zu einer richtigen? Warum habe ich kein Rückgrat? Ist Rückgrat nicht etwas, das man mit zweiunddreißig haben sollte?
Zu Hause habe ich weitergeheult. Dann ferngesehen. Talkshows. Bei allen Drachen sollten Talkshows laufen. Dann wäre ein Großteil des Valiums überflüssig.
Nach vier Stunden TV-Zankerei fühlte ich mich immer noch mies. Aber ich hatte vergessen, warum.
Dann kam Mario nach Hause. Mit einem lauten Poltern. »Verdammte Scheiße, kann die nicht ein Mal ihre Latschen wegpacken?«
Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, mir die Sofadecke über den Kopf zu ziehen. Eigentlich wollte ich mich bei Mario über die Chefin beschweren. Weil ich weiß, dass er sie für inkompetent hält. Und geldgeil. Und für die komplette Fehlbesetzung ihres Postens.
Die Wohnzimmertür prallte gegen die Wand. Die Klinke hat an der Stelle mittlerweile eine Kerbe hinterlassen.
Marios Begrüßung: »Wie oft hab ich dir gesagt, dass die Schuhe ins Regal gehören?!«
Mario ist nicht größer als ich. Genau genommen ist er sogar kleiner. Zwei Zentimeter. Deshalb trage ich selten Schuhe mit Absätzen. Und knicke ein Knie ein, wenn ich neben ihm stehe. Aber er ist ziemlich kräftig. In den letzten Jahren hat er zugenommen. Blonde Haare. Und dunkle Brauen. Wenn er wütend ist, ziehen sie sich zu einem schwarzen Balken zusammen. Und über seiner Nase entsteht eine scharfe senkrechte Falte.
Mario war wütend.
Die Falte über der Nase teilte den Brauenbalken in zwei Hälften. Ein Grund für seinen Ärger ist seine Baustelle bei Osnabrück. Eineinhalb Stunden fährt er morgens hin. Und abends eineinhalb Stunden zurück. Er ist selten vor acht zu Hause.
Der andere Grund für seine Wut waren meine Schuhe.
»Es ist ein Handgriff, die Schuhe nach dem Ausziehen ins Regal zu stellen! Das müsstest sogar du schaffen. Ich weiß, dass du immer länger brauchst, um dir was zu merken. Aber nach zehn Jahren solltest auch du es irgendwann kapieren.«
»Ist ja gut!«
Ich huschte in den Flur. An Mario vorbei. Die Schuhdiskussion fehlte mir noch. Die würde den Scheißtag komplett machen. Schnell platzierte ich die Ursache des Ärgers im Regal.
Im Wohnzimmer schaltete Mario zum Sport.
Ich ging nicht zurück. Ich schlich die Treppe hinauf. In mein Zimmer. Schaltete mein Notebook ein.
Und hier sitze ich immer noch.
Allerdings hat Mario mir vor ein paar Minuten einen heißen Kakao gebracht.
Morgen gebe ich dem Drachen den Besen zurück. Die Medikamente werden abgesetzt. Für den echten Notfall aufgehoben, für den sie bestimmt sind. Und die Drachentochter soll ihre Mutter endlich zu sich nehmen. Oder sich um einen Platz im Seniorenheim kümmern. Das kriegt sie jetzt schriftlich.
6.
Anna Willms, die Leiterin des Pflegedienstes, hatte mich absichtlich Hedi Sundermann zugeteilt. Und Hedi hatte ihre Tour heute absichtlich mit Frau Schröder begonnen. Wahrscheinlich hatte sie schon unzählige Pflegehelfer und Praktikantinnen vor mir auf die gleiche Weise eingearbeitet.
Das wurde mir bei der letzten Adresse auf unserer Fahrt klar. Seit wir heute Mittag Pippi Langstrumpf in die Badewanne geholfen hatten, hatte Hedi die Dosis stetig gesteigert.
Mittlerweile wusste ich, dass eine Tena Lady eine Windel für Blasenschwache war. Ich hatte in einer schlecht beleuchteten Wohnung mit einer boshaften, alten Frau Tee aus sehr, sehr schlecht gespülten Tassen getrunken. Und ich hatte erlebt, wie Hedi mit Ehrfurcht gebietender Gelassenheit hinnahm, dass ihr ein höchstwahrscheinlich besoffener Opa an den Busen grapschte. Sollte das einer bei mir wagen, würde ich ihm die Nüsse knacken. Egal, ob er im Rollstuhl saß oder nicht.
Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich daran erinnerte, dass ich hier ja nur ermittelte, also niemals eine eigene Tour haben würde und diese Arbeit nie allein machen musste.
Ich starrte noch immer verständnislos auf Hedis gebeugten Rücken, als sie jetzt die letzte Wohnungstür für heute öffnete.
Drinnen roch es nach Tod. Der Gestank lenkte meine Aufmerksamkeit zu unserem Job zurück. Noch nie war mir aufgefallen, dass man die Anwesenheit des Todes tatsächlich riechen konnte.
Konnte man wirklich. Er roch nach Scheiße.
»Du hast schon Feierabend. Willst du wirklich noch mitkommen?«
Hm.
Ich hielt Hedis mildem Blick stand. Mittlerweile hatte ich auf dem Schild an ihrer Kittelbluse den Zusatz Stellv.
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