77 Tage
Teamleitung unter ihrem Namen entdeckt. Der erste Eindruck, den Hedi erweckte , täuschte. Sie war nicht die überforderte Altlast, die mit dem Tempo der jüngeren Pflegekräfte nicht mithalten konnte, auch wenn die wasserstoffblonde Brezel sie in der Dienstbesprechung so dargestellt hatte. Sie war sogar verdammt gut und sie war die Stellvertreterin von Anna Willms.
Ich hielt es für durchaus möglich, dass Hedi mich testen wollte. Ob ich schon nach meinem ersten Tag von den Tena – Windeln und dem Pflegekoffer-Wuchten genug hatte. Ob ich die Flucht ergriff vor dem Gestank nach Fäkalien, Urin und Zigaretten.
Hedis verständnisvolles Lächeln war eine eindeutige Herausforderung. Aber nicht mit mir!
»Ich lass dich doch deinen Koffer nicht allein schleppen«, tippte ich mir an die Stirn.
Hedi nickte anerkennend. »Frau Schiller ist unser schwerster Fall heute. Zweiundsechzig Jahre, zwei Schlaganfälle, dazu Alzheimer-Demenz. Endstadium, vollkommener Sprachverlust. Sie vegetiert nur noch vor sich hin. Pflegestufe III plus Zusatzleistungen.«
Ich atmete noch einmal tief ein, bevor ich Hedi in die Wohnung folgte. Die Luft war dick wie Sirup, der Flur dunkel, kurz und unordentlich. Eine mit Jacken überfüllte Garderobe, darunter ein Durcheinander aus Schuhen und Handtaschen, ein fleckiger Spiegel, eine Kommode, auf der ich Halstücher, Portemonnaies, Taschen, zerknüllte Kassenbons und drei benutzte Kaffeetassen entdeckte.
Puh.
»Pflegedienst Sonnenschein «, rief Hedi durch die offen stehende Wohnzimmertür. »Guten Abend, Frau Schiller.«
Sie bekam ein Brummen zur Antwort.
Ich warf einen Blick in den von Zigarettenschwaden vernebelten Raum. Eine dicke Frau im Jogginganzug saß rauchend zwischen Schmutzwäsche und Chipstüten vor dem Fernseher.
»Die junge Frau Schiller ist die Schwiegertochter unserer Patientin.« Hedi bückte sich unter der nächsten Tür hindurch.
Hm, Frau Schiller junior hatte die Arbeit offensichtlich noch nicht für sich entdeckt.
Der kleine, düstere Raum, in den ich Hedi folgte, war die Quelle des wirklich üblen Geruchs. Urin, Fäkalien, Mundgeruch – Verwesung.
»Die Schiller hat die Bude wieder den ganzen Tag nicht gelüftet«, zischte Hedi verärgert, während sie das Licht einschaltete und die Zimmertür hinter uns schloss. »Wenn du mich fragst, war die überhaupt nicht hier drin. Aber das Pflegegeld abkassieren.«
Es wurde hell im Zimmer, das von dem riesigen, verstellbaren Pflegebett in der Mitte des Raumes beinahe ausgefüllt wurde. Die gewaltige Mechanik ließ jedes Bettelement in jede denkbare Position verstellen. Seitlich baumelte ein Urinbeutel, ein summender Motor pumpte die mit Luft gefüllte Matratze auf, in den aufgebauschten Kissen versank das winzige, eingefallene Gesicht der Patientin.
»Hallo, Frau Schiller. Lassen wir erst mal ein bisschen frische Luft herein, ja?«
Hedi hatte beide Fensterflügel weit aufgerissen. Ich sog die kalte Abendluft ein, als würde ich nach einem langen Tauchgang endlich wieder an die Oberfläche gelangen.
Hedi trat ans Bett und betrachtete kurz und aufmerksam das Gesicht der alten Frau, bevor sie deren Hand nahm. »Ich bin’s, Hedi Sundermann vom Pflegedienst Sonnenschein. Wir kennen uns ja, Frau Schiller, nicht wahr?«
Plötzlich hatte sich der typische Krankenschwestertonfall in Hedis Stimme geschlichen. Dieser fröhlich-blöde Singsang, den ich bei meinen eigenen, recht zahlreichen Krankenhausaufenthalten oft genug gehört hatte, wenn morgens die Vorhänge aufgezogen und die Fenster geöffnet wurden.
»Guten Morgen, Liliana! Wollen wir erst mal ein bisschen frische Luft hereinlassen und nachsehen, ob die Sonne scheint, nicht wahr?«
Womöglich gab es auf den Schwesternschulen ein eigenes Ausbildungsfach. Patientenverarsche für Anfänger oder so. Wer diesen Ton benutzte, erwartete keine Antwort.
»Nein danke, ich würde heute gern ersticken!«, hatte ich gelegentlich erwidert, war aber immer überhört worden.
Die Frau im Bett öffnete nicht einmal die Augen.
»Ich habe heute unsere neue Pflegerin Liliana mitgebracht«, zwitscherte Hedi optimistisch weiter. »Sehen Sie sie doch mal an.«
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich noch immer mit dem schweren Pflegekoffer in der Hand in der Zimmertür stand. Zögernd trat ich einen halben Schritt näher.
Die Hände der Patientin waren mager, knochig, von blauen Adern und dunklen Flecken überzogen. Die verkrampft zusammengepressten Finger hielt die Frau auf die Brust
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