77 Tage
rangierte den Polo gekonnt in eine winzige Parklücke. Sie stieg aus und öffnete die Heckklappe, auf der neben einer aufgeklebten Sonne der Schriftzug Ambulanter Pflegedienst Sonnenschein – Ihr kompetenter Partner für die Betreuung zu Hause zu lesen war. Ein Metallkasten füllte den winzigen Kofferraum komplett aus.
»Im Pflegekoffer sind Spritzen, Verbandsmaterial, Blutdruckmessgeräte, Insulinpens und so weiter. Aber als Pflegehelferin bekommst du keinen Koffer.«
Eindeutig ein Vorteil, erkannte ich, als ich Hedi die Kiste aus der Hand nahm. Ich war ja die Jüngere, Kräftigere von uns beiden, doch als ich Hedis Pflegeausrüstung hob, musste ich ein Stöhnen unterdrücken: Das Zeug wog gefühlte drei Zentner.
»Unsere erste Patientin heute ist Frau Schröder. Sie wohnt gleich hier in der Nummer sechzehn, allerdings im vierten Stock. Kein Aufzug.«
Na toll. Ich wusste nicht mal, wie ich Hedis Pflegekiste bis zur Tür bekommen sollte. Wann war ich eigentlich höflich geworden?
»Soll ich den Koffer lieber selbst tragen?« Hedi lächelte milde auf mich herunter. Anscheinend konnte man in meinem Gesicht meine Gedanken lesen. »Auch wenn ich es nicht mehr weit habe bis zur Rente, bin ich noch keine Oma, für die man im Bus den Sitzplatz frei macht.«
»Macht heute kein Mensch mehr«, presste ich ironisch zwischen zusammengebissenen Lippen hervor.
Schulterzuckend zog Hedi eine Zeitschrift aus einem Briefkasten im Flur.
Ich zerrte den Pflegekoffer die knarrenden Altbaustufen hinauf.
»Frau Schröder ist eine sehr nette Dame«, erklärte mir Hedi. »Bisher Pflegestufe I wegen MS – multipler Sklerose. Seit ihrem letzten Schub hat sich ihr Zustand allerdings erheblich verschlechtert. Sie zieht in ein paar Tagen um in ein Behindertenwohnheim. Heute sollen wir ihr beim Waschen helfen.«
Vor einer weiß lackierten Wohnungstür im vierten Stock blieb Hedi stehen. Sie klingelte zwei Mal kurz hintereinander und zog dabei schon den klimpernden Schlüssel aus der Tasche.
Klackend öffnete die Pflegerin die Wohnung, bückte sich unter dem Türrahmen hindurch und stand im Chaos. Der Flur war eng. Ein Eindruck, den die rechts und links bis unter die Decke gebauten Kartontürme noch verstärkten.
Hedi schlängelte sich zwischen den Pappwänden hindurch, was ihrer fülligeren Kollegin Agi womöglich nicht mehr geglückt wäre. Während ich mich ebenfalls hindurchzwängte, las ich im Vorbeigehen die säuberliche Beschriftung eines Kartons in Augenhöhe: Küche – Kaffeeservice rot, Besteck. Vor meinen Füßen stand ein weiterer offener Karton, gefüllt mit – hui, High Heels. Die alte Dame hatte offenbar eine Vorliebe für schicke Schuhe.
»Oje, Frau Sundermann«, hörte ich eine leicht erschrockene Frauenstimme, als sich Hedi hinter einem letzten Kartonturm durch die Wohnzimmertür duckte. »Ich war so mit Packen beschäftigt, ich hab Sie ganz vergessen. Es ist noch gar nichts vorbereitet.«
»Immer mit der Ruhe, das kriegen wir schon hin«, beruhigte Hedi gelassen. »Ich hab heute Verstärkung mitgebracht. Unsere neue Kollegin Liliana Ziegler.«
Die Selbstverständlichkeit, mit der Hedi mich vorstellte, ließ durchblicken, dass sie schon häufiger neue Mitarbeiter eingearbeitet hatte. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer.
Frau Schröder legte ein in Zeitungspapier eingewickeltes Weinglas in den Karton neben dem Reifen ihres Rollstuhls und schloss die Vitrine, in der noch weitere Gläser darauf warteten, für den anstehenden Umzug verpackt zu werden.
»Hallo«, sagte die Patientin, ohne zu lächeln. Sie war schlank und saß in Jeans, einem rosa Shirt und schicken, hochhackigen Lederstiefeln in ihrem Rollstuhl. Sie war geschminkt und hatte ihre rotblonden Locken zu zwei Zöpfen geflochten. Die Frau war allerhöchstens dreißig. Mit den dicken Sommersprossen auf der Stupsnase erinnerte sie an Pippi Langstrumpf – Pippi Langstrumpf im Rollstuhl.
»Mach du schon mal die Wanne fertig, Liliana«, bat mich Hedi, damit ich nicht noch länger blöd glotzen konnte. »Zweite Tür links. Und das Rosenöl-Schaumbad aus dem Regal.«
Sechs Minuten später quoll duftender Schaum aus der Badewanne und Pippi Langstrumpf war nackt. Hedi und ich halfen der jungen Frau ins Badezimmer. Ihr Rollstuhl musste im Wohnzimmer bleiben, weil er nicht zwischen den Kartons im Flur hindurchpasste.
Wir hakten die zierliche Frau Schröder rechts und links unter und führten sie ins Bad, wo noch immer dampfend heißes Wasser in eine schmale Wanne
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