Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
77 Tage

77 Tage

Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
Vom Netzwerk:
Friedlich, der anderen älteren Kollegin, ging es irgendwann ähnlich wie mir. Vielleicht kann man ab einem bestimmten Alter einfach nicht mehr so gut mit Veränderungen umgehen. Agi macht es jetzt wie ich. Ihre Kinder sind groß, ihr Mann ist letztes Jahr gestorben, und bevor sie auf der Arbeit nur Stress hat und hinterher allein zu Hause sitzt, verbringt sie ihre Zeit lieber mit den Patienten. Das gibt manchmal natürlich Probleme für die andere Schicht, in der die jüngeren Kolleginnen pünktlich zu Hause sein wollen. Das hast du ja in der Besprechung vorhin mitbekommen.«
    Hedi sah auf ihre schmale, vergoldete Armbanduhr.
    »Deshalb holen wir Frau Schröder aus der Wanne, bevor wir sie zu sehr verwöhnen!«, rief sie.
    Pippi Langstrumpf murrte hinter der angelehnten Badezimmertür.
    Tag 6
    BELLAS BLOG:
    MITTWOCH, 22.04 UHR
    Heute ging alles daneben.
    Es begann mit dem Drachen. In der Frühschicht wurde sie wieder auffällig.
    Die Leiharbeiterin rief um Viertel nach acht an. Der Drachen hatte sie aus der Wohnung gejagt. Bewaffnet mit einem Besen. Und ließ sie nun nicht mehr herein.
    Also bin ich einen Umweg gefahren. Habe dem Drachen den Besen weggenommen. Ohne die Waffe wurde sie noch auffälliger. Und bevor ich die alte Frau beruhigen konnte, stand auch noch ihre Tochter vor der Tür. Zum täglichen Besuch.
    Der Drachen griff zum nächstbesten Blumentopf. Aus Mangel an Besen. Im Kübel steckte eine achtzig Zentimeter hohe Zimmerpalme. Körperlich ist die Frau wirklich noch fit.
    Die Drachentochter ist Anfang sechzig. Und nicht weniger verhaltensauffällig als ihre Mutter. Auch ohne Demenzerkrankung. Die Situation war ein willkommener Anlass, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Sie ignoriert nämlich, dass ihre Mutter nicht mehr allein in ihrer Wohnung bleiben kann. Stattdessen verlangte sie, dass ich ihrer Mutter etwas zur Beruhigung verabreichte. Damit sich die arme, alte Frau nicht länger aufregen müsse.
    Pflegepersonal, das Patienten mit Medikamenten ruhigstellt, finde ich schlimm. Kinder, die ihre Eltern ruhigstellen wollen, erbärmlich.
    Diese Meinung habe ich der Drachentochter höflich mitgeteilt. Es hat genau eineinhalb Minuten gedauert, bis sie sich bei der Chefin beschwert hat.
    Ich hasse so was.
    Ich bin seit zehn Jahren im Beruf. Die öffentliche Meinung über das Ruhigstellen von Patienten ist auf meiner Seite. Und erst neulich habe ich ein Rhetorikseminar besucht, um meine Meinung verständlich ausdrücken zu können.
    Doch vor der Bürotür der Chefin war mir übel. Vor Aufregung. Ich kam mir vor, als wäre ich bei einer Mathearbeit beim Spicken erwischt worden. Und müsste mir den Tadel vom Rektor abholen.
    Ich bin nie beim Spicken erwischt worden. Ehrlich gesagt, habe ich nie gespickt. Weil ich eine Streberin war, die immer alles wusste. Weil ich zu feige war. Was mich zu der Streberin, die immer alles wusste, hatte werden lassen. Und weil ich höchstwahrscheinlich zu ungeschickt gewesen wäre. Ich hätte dem Lehrer den Spickzettel vor die Füße kullern lassen.
    Weil ich nie gespickt habe, bin ich nie beim Spicken erwischt worden. Ich weiß nicht, ob man sich vor dem Büro des Rektors genauso mies fühlt wie vor dem Büro der Chefin.
    Jedenfalls fühlte ich mich krank. Mein Kopf hatte die Farbe einer schimmelnden Tomate. Mein Gesicht wechselt seine Farbe wie eine Verkehrsampel, wenn ich aufgeregt bin. Und mein Gehirn streicht sämtliche Qualifikationen, Fortbildungen und Schulungen aus dem Gedächtnis.
    Ich habe die Standpauke ziemlich wortlos hingenommen.
    Die Chefin ist Geschäftsfrau. Und benimmt sich auch so. Mit Angestellten spricht sie immer zu laut. Besonders, wenn ihr was nicht passt. Man überlegt vorher, ob man es auf ein Gespräch mit ihr ankommen lässt.
    Ein einziges Mal habe ich ein piepsiges ›aber …‹ hören lassen. Immerhin bin ich – im Gegensatz zu ihr – im Besitz einer medizinischen Ausbildung. Und es war nicht mein Primärziel, eine zahlende Kundin zu vergraulen. Ich wollte lediglich das Beste für den Drachen.
    Über dem rechten Auge der Chefin trat eine dicke, blaue Ader hervor. Die Ader brachte mich zum Schweigen. Widerspruchslos hörte ich mir den Rest der Standpauke an. Dass mein Arbeitseifer fehl am Platz wäre. Das Beste für den Drachen sei, dass ihre Tochter weiterhin unsere Rechnungen bezahlt. Statt einen anderen Pflegedienst zu beauftragen.
    Im Auto habe ich geheult. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt und heule, wenn mir der Rektor einen Tadel

Weitere Kostenlose Bücher