8 Tage im Juni
nebeneinander, Tag und Nacht herrschte hier reger Betrieb. Nacht für Nacht geleitete das vertraute Pfeifen der Züge Jenny ins Reich der Träume, danach hörte sie nichts mehr. Die Züge störten ihren Schlaf eigentlich nie.
Aber heute hatte der Fünf-Uhr-Zug sie geweckt, weil sie von dem Jungen und der U-Bahn geträumt hatte. Eine Zeitlupe hatte ihr gezeigt, wie die Bahn über den Jungen hinwegfuhr, wie die Räder seinen Kopf abtrennten. Furchtbare Bilder, die ihr vor Augen führten, dass alles auch ganz anders hätte kommen können. Manchmal hing das Leben wirklich an einem seidenen Faden. Dieses Bild fiel ihr ein, als ihr klar wurde, wie riskant die gestrige Rettungsaktion gewesen war.
Vergiss es, befahl sie sich wieder und versuchte, sich mit den Katzenbabys abzulenken. Sie stellte sich vor, wie sie unsicher über den Wohnzimmerteppich tapsten und erste noch erfolglose Sprünge aufs Sofa trainierten. Wie sie sich anfühlten, wenn man sie streichelte. Weich, leicht und hilflos. Aber die Bilder vom Friesenplatz lieÃen sich nicht verdrängen. Wieso hatte sie das Ganze nicht ein paar Stunden später träumen können? Heute war schlieÃlich Sonntag, eigentlich hätte sie ausschlafen können.
Toni, dieser Idiot! Trieb sich eindeutig mit den falschen Leuten herum. Alleine hätte er den Jungen um eine Zigarette angeschnorrt, aber niemals zugeschlagen, davon war Jenny überzeugt. Früher, als sie noch auf die gleiche Schule gingen, hatten sie auf dem Schulweg oft miteinander geredet. Er war nicht so ein Angeber wie viele andere und doof war er auch nicht. Im letzten Jahr hatte sie ihn nur selten gesehen und wenn dann zwischen Tür und Angel. Warum hatte sie ihn ausgerechnet gestern Abend wiedertreffen müssen? Besoffen und im Blutrausch, völlig anders drauf, als der Toni, den sie von früher kannte.
Die Bilder kamen wieder. Sie konnte sich nicht gegen sie wehren, morgens um fünf war sie viel zu müde dafür. Wieder sah sie die drei auf den Bahnsteig treten. Hatten Toni oder die beiden anderen sie gesehen? Jenny wusste es nicht. Sie sah sich selbst hinter dem Betonpfeiler stehen, zittrig vor Panik, unfähig einzugreifen, wie sie überlegte, ob sie die 110 wählen sollte oder nicht. Ob man ihre Nummer gespeichert hatte? Verdammt, daran hatte sie überhaupt nicht gedacht! Die speicherten doch heute alles, selbst den kleinsten Pups. Auch Prepaid-Handys? Die vielleicht nicht, aber was, wenn doch? Mit einem Schlag war sie hellwach. Sie wollte doch mit der Sache nichts mehr zu tun haben. Was, wenn die Bullerei sie anrief? Was sollte sie dann sagen? Jenny wusste es nicht. Aber sie wusste, dass sie in den nächsten Wochen nur ans Handy gehen würde, wenn sie die anrufende Nummer kannte.
Rintintin kratzte an der Tür, drauÃen rollte ein weiterer Zug vorbei, ein Blick auf den Wecker, 6 Uhr 23. Jenny zog sich die Decke über das Gesicht, rollte sich im warmen Dunkel ein. Sie wollte sich auf ihrem Hochbett verkriechen, bis die Welt wieder in Ordnung war. Aber die Welt war nie in Ordnung, man musste jeden Tag darum kämpfen, dass man darin nicht unterging. Und Untergehen, das hatte sich Jenny schon mit dreizehn geschworen, wollte sie nicht.
Rintintin kratzte lauter, die Katzenbabys maunzten, ein neuer Tag begann. Jenny kletterte aus dem Hochbett, fütterte die Tiere und säuberte das Katzenklo. Eine Tasse Kaffee in der aufgeräumten Küche, dann erst entfernte sie die Decke über dem Käfig der Kanaris, tauschte das Wasser aus und hängte ihnen eine neue Rispe Hirse an die Käfigdecke. 7 Uhr 5 zeigte die Küchenuhr, Rintintin musste vor die Tür. Jenny schlüpfte in ihre Schlappen und stolperte hinter dem Hund hinunter auf den Innenhof. Heute musste er hier kacken, Jenny war noch viel zu müde für einen längeren Spaziergang.
Rintintin verzog sich hinter einen der Holunderbüsche, Jenny rieb sich die Arme. Muskelkater, wieder spürte sie das Gewicht des Jungen. Der Morgen war frisch, der Himmel bewölkt, und auÃer der ollen Koslowski mit ihrem blöden Pudel zeigte sich noch keiner im Innenhof. Sonntagmorgen, da lieà es die Rote Burg ruhig angehen. Jenny folgte Rintintin, der mit dem blöden Pudel spielen wollte. Da sah sie die zwei über den Bolzplatz kommen. Den lange Dürren und den Breitschultrigen. Sofort begann ihr Herz heftiger zu schlagen. Was suchten die beiden
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