8 Tage im Juni
U-Bahn-Schläger in der Roten Burg?
»Sofort zu mir«, pfiff sie den Hund an, der überrascht gehorchte. Dann hetzte sie mit ihm ins Haus zurück, raste die Treppen hoch, stürzte in die Wohnung und schloss die Tür zweimal ab. Schwer atmend lehnte sie sich für einen Moment gegen die Tür. In der Wohnung herrschte schläfrige Ruhe, umso lauter hörte sie ihr Herz pochen. Jenny schloss die Augen. Sie würde wieder ins Bett zurückkriechen, sich die Decke über den Kopf ziehen und nie, nie mehr aufstehen.
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»Lovis, aufstehen! Wir müssen zur Polizei!«
Gustavs Stimme und ein Schmerz an der Schulter lieÃen Lovis hochfahren. Er tauchte aus einem schwarzen, traumlosen Schlaf auf und öffnete widerwillig die Augen. Gustav hatte sich über ihn gebeugt. Sein Vater schlug die Bettdecke zur Seite und hielt ihm den Arm hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen.
»G-g-g-geht schon«, murmelte Lovis. »La-la-lass mir noch ei-ein p-p-paar Minuten.«
Gustav nickte. »Was willst du frühstücken? Cornflakes wie immer?«
Lovis nickte, nicht wegen der Cornflakes, sondern weil er allein sein wollte.
»Wenn du Hilfe brauchst, gib Bescheid«, rief Gustav im Gehen.
Lovis lieà seinen Blick kreisen. Sein Zimmer sah aus wie immer. Schreibtisch, PC, Playstation, Fernseher, neben dem Schrank das Filmplakat von Avatar. Im gleichen Blau hatte er eine Wand gestrichen und dort seine Sportmedaillen und die zwei schönen Bumerangs aufgehängt, die Gustav ihm von einer Australienreise mitgebracht hatte. Erst jetzt wagte er einen Blick auf seinen Körper. Die Knie unterhalb der Boxershorts sahen verboten aus. Blutverkrustet und angeschwollen, farblich eine wilde Mischung. Vorsichtig schob er sein T-Shirt nach oben und tastete Brustkorb und Bauch ab. Jede Berührung lieà ihn aufstöhnen, er fühlte sich, als wäre eine Herde Bisons über ihn hinweggetrampelt. Er biss die Zähne zusammen, rollte sich zur Seite, setzte die FüÃe auf den Boden und stand auf. Wie ein alter Mann schlurfte er ins Badezimmer, jede Bewegung schickte einen wilden Mix aus Schmerzen durch seinen Körper. Lovis hatte nicht gewusst, dass sein Körper auf so vielfältige Weise wehtun konnte.
Im Badezimmer hielt er sich am Waschbecken fest und schloss die Augen. Er atmete ein paarmal tief ein und aus; sogar das schmerzte. Dann riskierte er einen Blick. Ein Auge blau geschlagen, über dem zweiten die Braue geschwollen, die Lippen sahen doppelt so dick aus wie sonst. Eine Boxerfresse, so sahen die Jungs nach einem harten Fight aus. Nur â er hatte nicht gekämpft. Er hatte gar nichts getan. Wieso war er eigentlich nicht weggelaufen? Ãber die Gleise auf und davon, die drei hätten keine Chance gehabt, ihn einzuholen. Die Idee war ihm gar nicht gekommen. Warum? Weil er gelähmt gewesen war. Wie das Karnickel vor der Schlange.
Das Duschen war die Hölle, das Wasser brannte wie Salz in den Schürfwunden. Zurück in seinem Zimmer wühlte Lovis ein weites Kapuzenshirt und eine Jogginghose aus dem Schrank. In eine Jeans würde er mit den ramponierten Knochen niemals hineinkommen. Noch einmal betrachtete er sich im Spiegel auf der Innenseite der Schranktür. Natürlich sah er beschissen aus. Aber in einer Woche, vielleicht in zwei würde alles wieder verheilt sein.
Seine sichtbaren Verletzungen waren nicht sein gröÃtes Problem.
»Bist du so weit?«, rief Gustav aus der Küche.
Tief über den Tisch gebeugt, löffelte Lovis wenig später stumm seine Cornflakes. Gustav schob ihm einen Teller mit kleingeschnittenem Obst hin und erzählte was vom Wetter und davon, dass er einen Mietwagen für den Amerika-Trip gebucht hatte. »Wirst sehen, Lovis, in vier Wochen, wenn unser Flieger geht, bist du wieder frisch wie der junge Morgen.« Ablenkungsmanöver, wusste Lovis und mied den Blick in das Gesicht des Vaters. Er wusste, wie es aussah: besorgt, alarmiert, panisch.
»Wir müssen in die Stolkgasse, dort ist das Polizeirevier von Herrn Sennefeld«, schwatzte Gustav weiter.
Lovis legte den Löffel zur Seite. Er hatte vier Portionen Cornflakes und das Obst gegessen.
»Immerhin schmeckt es dir schon wieder. Ein gutes Zeichen.«
Man kann alles so oder so deuten, dachte Lovis. Die vier Portionen hatte er nur verdrückt, um nicht reden zu müssen. So sah es nämlich aus.
»Sollen wirâs hinter uns bringen?
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