8 Tage im Juni
Sennefeld brachte den Satz nicht zu Ende, weil in dem Moment Gustav in den Raum polterte.
»Was wollen Sie von meinem Sohn?«, fuhr er den Polizisten an, drängte ihn zur Seite und beugte sich zu Lovis hinunter. »Mensch, GroÃer, du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt.« Er checkte Lovisâ sichtbare Verletzungen und fuhr dann mit der Hand über sein Gesicht, zog sie aber sofort zurück, als Lovis vor Schmerz zusammenzuckte. »Alles wird gut«, murmelte er und drückte ihm die Hand.
»Aaahaah«, stöhnte Lovis und war froh, als Gustav seine Hand loslieÃ.
Gustav stellte Aktentasche und Laptop ab und sah herausfordernd von Polizeiobermeister Sennefeld zu Dr. Morgenstern und wieder zurück. Sennefeld berichtete von der Schlägerei, Dr. Morgenstern von den Verletzungen. Gustav hörte zu, fragte nach, lief dabei auf und ab. Energiegeladen, konzentriert, so wie Lovis den Vater kannte. Für Gustav war im Leben alles eine Frage der Organisation und des Kampfgeistes. Mit Kampfgeist konnte man jedes Problem angehen und mit Organisation bekam man jedes Problem in den Griff. Lovis konnte nicht aufzählen, wie oft sein Vater versucht hatte, ihm diese Sicht der Dinge einzubläuen. Jedes Mal war Gustav enttäuscht, wenn es Lovis an Kampfgeist für bessere Schulnoten mangeln lieà oder in seinem Zimmer mal wieder völliges Chaos herrschte.
»Selbstverständlich wird Lovis morgen auf die Wache kommen, um auf Ihren Fotos nach den Tätern zu suchen«, erklärte er Sennefeld. »Wir werden alles tun, damit Sie die Schläger fassen können, und erwarten dies auch von Ihnen.« Ein energischer Händedruck zum Abschied, dann reichte Gustav Sennefeld die Mütze, die dieser auf dem Fensterbrett abgelegt hatte. Sennefeld wandte sich Lovis zu. »Bis morgen«, sagte er, bevor er die Mütze aufsetzte und ging.
Gustav bekam das nicht mit. Er war schon in ein Gespräch mit Dr. Morgenstern vertieft.
»Ich gebe Ihnen ein Schmerzmittel für Lovis mit«, erklärte sie, »und da ist noch etwas, das ich mit Ihnen besprechen muss.« Sie senkte die Stimme. Lovis sollte nicht verstehen, was sie sagte. Erwachsene sind manchmal so dämlich, dachte er. Als ob er nicht wüsste, dass die Ãrztin mit dem Vater über seine Sprachlosigkeit redete. »Hatte er das früher schon mal?«, fragte sie lauter.
»Das ist sehr lange her.« Gustavs Stimme klang mit einem Mal brüchig. Lovis wusste, dass sein Vater genauso ungern an jene Zeit zurückdachte wie er. Und sie hatten das Problem ja damals in den Griff bekommen.
»Es kann durchaus sein, dass es sich dabei um eine kurzfristige Schockreaktion handelt«, versuchte es Dr. Morgenstern wieder mit ihrer Alles-wird-gut-Haltung. »Wenn nicht, empfehle ich Ihnen, einen Trauma-Experten aufzusuchen.«
Zu zweit halfen sie Lovis beim Aufstehen. Es gab keine Stelle an seinem Körper, die ihn dabei nicht schmerzte. Gestützt von seinem Vater schlurfte er langsam wie ein alter Mann dem Ausgang zu. Auf der Fahrt schwiegen sie. Zu Hause half Gustav Lovis beim Ausziehen und Waschen, was ihnen beiden unangenehm war. Als Lovis endlich im Bett lag, brachte ihm Gustav ein Glas Wasser und eine Schmerztablette. »Schockreaktion, das hört man ja oft, bestimmt kannst du morgen wieder sprechen.«
Wunschdenken, dachte Lovis und schluckte die Tablette.
»Wenn nicht, rufe ich Frau Wittkämper an«, schickte Gustav hinterher.
Lovis schloss die Augen. Nie mehr, schwor er sich, würde er zu dieser hysterischen Hupfdohle gehen.
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Um fünf Uhr riss der erste Zug Jenny aus dem Schlaf. Sein dumpfes Grollen lieà Joe-Joes FuÃballbildchen auf der Fensterbank erzittern. Jenny sah wie Lukas Podolski, den Joe-Joe schlaftrunken nur halb auf die Fensterbank gelegt hatte, zu Boden schwebte. Sie schob den Vorhang beiseite. DrauÃen war alles still, als wäre es noch tiefste Nacht. Aber von Osten her schob sich bereits ein erster Streifen dreckiges Weià in das Schwarz des Nachthimmels. Viel zu spät, um noch genügend Schlaf zu bekommen, viel zu früh, um wach zu bleiben. Jenny rollte sich wieder in ihre Decke ein und schloss die Augen. Es war kein gutes Zeichen, dass der Fünf-Uhr-Zug sie geweckt hatte. Züge begleiteten ihren Schlaf, so lange sie denken konnte. Die Rote Burg lag direkt an der groÃen Ost-West-Schienenstrecke. Mindestens fünf Gleise
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