8 Tage im Juni
mit keinem redete sie über die, die wollte sie doch vergessen, die konnten ihr nichts. Wie oft musste sie sich das noch sagen?
In ihrer Etage angekommen zweifelte Jenny an ihrem Geruchssinn. Aus ihrer Wohnung wehte ihr der Duft von Bratkartoffeln entgegen. Mit vorsichtigen Schritten folgte sie der Duftspur.
»Spinat, Bratkartoffeln, Spiegelei«, jubelte Joe-Joe, der bereits in die Küche vorgelaufen war.
»Geh, Lieschen, koch mir Hirsebrei«, summte Jasmin. »Mit Bratkartoffeln, Spiegelei.«
Jenny zwickte sich in den Arm, bevor sie die Küchentür öffnete. Sie träumte nicht. Am Herd stand eine frischgeduschte, strahlende Jasmin, in Jeans und der lilaweiÃkarierten Bluse, die Oma Hilde ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Mit der Bluse sah sie zehn Jahre jünger aus. Der Tisch war gedeckt, sogar bunte Papierservietten, Ãberbleibsel von Joe-Joes letztem Geburtstag, steckten in den Gläsern. Aber heute war kein Geburtstag oder ein anderes Fest. Was war nur los? Träumte sie wirklich nicht? Nein, sie spürte Jasmins Wärme, als diese auf sie zukam, sie umarmte und ihr ins Ohr flüsterte: »Jenny, meine Beste. Mein groÃes Mädchen, was würde ich ohne dich machen?« Und laut rief sie: »Es gibt auch Nachtisch!«
Benommen setzte sich Jenny an den Tisch. Jasmin füllte die Teller ihrer Kinder. Sie fragte Joe-Joe nach seinen Erlebnissen in der Schule und strich Jenny zwischendurch sanft über die Hand. Sie lachten und schäkerten miteinander. Wie früher. Wie in den guten Zeiten.
Meine Familie, dachte Jenny. Warum soll ich sie verlassen? Was will ich in einer fremden Mädchen-WG?
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Der Anrufbeantworter blinkte, als Lovis in die Wohnung zurückkehrte. Er ignorierte das rote Lämpchen und ging duschen. Erst danach hörte er die Nachricht ab. »Hallo Lovis.« Das war Sennefelds Stimme. »Die Kollegen haben gestern zwei Jugendliche aufgegriffen, auf die deine Beschreibung passt. Kannst du noch mal vorbeikommen und dir deren Fotos ansehen?«
Nicht dass er Lust dazu hatte. Ein bisschen »Warcraft« an der Playstation oder ein Tennismatch auf dem Sportkanal, so was in der Art hatte er sich als Ablenkung für den Nachmittag vorgestellt. Auf keinen Fall schon wieder mit dem Ãberfall und seinen Folgen konfrontiert werden. Dennoch konnte er die Nachricht schlecht ignorieren. Er wusste, dass sie sich hartnäckig zwischen die Schlachten in »Warcraft« oder die ploppenden Tennisbälle drängeln würde. Besser für ihn, die Sache nicht auf die lange Bank zu schieben.
Missmutig schlüpfte er in frische Klamotten und steuerte zum zweiten Mal an diesem Tag den Ebertplatz an. Diesmal stieg er die Treppen zur U-Bahn-Station hinunter, so wie er es täglich auf dem Weg zur Schule tat. Ein Blick auf die Uhr, zwei Uhr mittags, um diese Zeit quollen die Bahnen über vor Schülern auf dem Nachhauseweg. Jetzt bloà keinem aus meiner Klasse begegnen, wünschte sich Lovis und zog seine Kapuze ins Gesicht, als er sich durch die lärmenden Grüppchen hindurch zum Bahnsteig bewegte.
Als die Bahn einfuhr und quietschend zum Stehen kam, rollten die Bilder des Ãberfalls tsunamiartig auf ihn zu, und mit ihnen kehrte die Angst zurück. Herzrasen, Schwindel, Panik, nichts lieà sie aus, um ihm ihre Macht zu demonstrieren. Wie ein Punchingball wurde Lovis zuerst von den Herausstürmenden nach hinten und dann von den In-die-Bahn-Drängenden nach drinnen geschoben. Eingequetscht zwischen einer Meute von Krakeelern krampfte sich seine Hand um einen Haltegriff, als wäre er ein Rettungsring. Schreien wollte er, abhauen wollte er, doch nichts ging. Als er mit der Meute am Hauptbahnhof ausgespuckt wurde, torkelte er über den Bahnsteig und die Rolltreppen hinauf zum Bahnhofsvorplatz.
Diese Dumpfbacken, dieses hirnlose Schlägerpack! DreiÃig Jahre Alcatraz, Schwerstarbeit im Steinbruch, tägliche Prügel wünschte Lovis seinen Peinigern, während er um Luft und Fassung rang und all seine Willenskraft brauchte, um nicht laut loszuheulen. In Zeitlupe schleppte er sich die paar hundert Meter bis zur Polizeiwache.
Sennefeld führte ihn in das Büro, das er schon kannte, und rief auf seinem Rechner zwei Fotos auf. Der Kleine mit der Zahnlücke und der Psychopath. Eindeutig, kein Zweifel möglich. Er war sich hundertprozentig sicher. Sollten sie ab jetzt in der Hölle schmoren.
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