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8 Tage im Juni

8 Tage im Juni

Titel: 8 Tage im Juni Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Glaser
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neues Leben zu beginnen. Wie die Mitbewohnerinnen wohl drauf waren? Wie die Wohnung aussah? Ihr Zimmer, zum ersten Mal ein eigenes Zimmer! Ob sie die Wände nach ihrem Geschmack dekorieren könnte? Ob Tiere erlaubt waren? Denn ohne Rintintin würde sie die Rote Burg nicht verlassen. Die Rote Burg, ihr Zuhause. Sie hatte nie anderswo gewohnt. Was würde Jasmin dazu sagte? Oder Joe-Joe? Konnte sie Joe-Joe allein bei Jasmin zurücklassen? So viele offene Fragen! Die Mädchen-WG – das war eine schwere Entscheidung. Eine, die nicht ohne heftige Bauchschmerzen abgehen würde, befürchtete sie. Dass immer alles so kompliziert sein musste!
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    Â»Sehr geehrte Frau Krumholz«, schrieb Lovis in der Mail. »Leider kann ich den Termin für die Sprachtherapie, den mein Vater gestern für mich ausgemacht hat, heute nicht wahrnehmen. Mit freundlichen Grüßen. Lovis Urban.« Dann klickte er schnell auf Absenden. Ein Zeitgewinn war das. Zumindest heute würde die Therapie-Tussi nicht bei Gustav anrufen und die Pferde scheu machen. Wenn Gustav am Abend danach fragte, konnte Lovis sich was zusammenstottern. Stottern, das konnte er zurzeit ja prima!
    Seine Knochen schmerzten an diesem Morgen schon etwas weniger, dreißig Kniebeugen und Liegestütze nach dem Aufstehen hatten leidlich funktioniert. Beim Blick in den Spiegel kein Erschrecken mehr. Aus Gewohnheit oder weil die Schwellungen schrumpften? Da wollte sich Lovis nicht festlegen. Einen erneuten Versuch zu sprechen, wagte er nicht. Warum sich den neuen Tag direkt mit Frust versauen? Aber wenigstens das Laufen wollte er heute mit einer kleinen Teststrecke in Angriff nehmen.
    Später, denn erst galt es, noch etwas anderes zu erledigen. Er rief eine leere Worddatei auf, aber der neue Text ging ihm nicht so leicht von der Hand wie die Mail an Frau Krumholz. »Liebe Jenny«, tippte er, »ich schicke dir deinen Schülerausweis, der, ich weiß nicht wie, in meiner Brusttasche gelandet ist.« Dann schrieb er lange gar nichts. Er zimmerte sich im Kopf Sätze zurecht, verwarf sie als zu billig oder zu gefühlsdusselig. Sätze konnten so furchtbar missverständlich sein, vor allem, wenn man sich überhaupt nicht kannte. Was für eine mühselige und anstrengende Suche nach den richtigen Worten! Aber wie flüssig sie sich dann auf dem Computer schrieben. Wie fehlerfrei sie auf dem Bildschirm erschienen, nicht das kleinste Fitzelchen von Stotterei! »Ich hoffe, du hast deswegen noch keinen Ärger gehabt – meist kommen die Kontros ja genau dann, wenn man seinen Ausweis nicht bei sich hat –, aber für mich war es ein Glück, dass du ihn verloren hast, denn so kenne ich deinen Namen. Du hast mir das Leben gerettet. Wow! Nachdem du mich auf den Bahnsteig gezogen hast, warst du plötzlich verschwunden. Gerne würde ich dich wiedertreffen, um dir persönlich zu danken. Wann und wo immer du magst. Schlag etwas vor.«
    Den Text speicherte er ab, dann kopierte er ein paar Gitarrenstücke auf eine CD, die er mal von sich aufgenommen hatte. Klingt gar nicht übel, dachte er beim Kontrollhören. »Jennifer« war zum Glück auch dabei. »Für Jenny von Lovis«, schrieb er auf die CD.
    Er brütete noch eine ganze Weile über seinem Text und korrigierte das eine oder andere, bevor er die Seite ausdruckte, seine Unterschrift daruntersetzte, den Text dann doch handschriftlich abschrieb und gemeinsam mit dem Schülerausweis und der CD in einen Umschlag steckte.
    Jetzt musste er damit zur Post gehen! Mütze tief ins Gesicht ziehen, Laufschuhe zuschnüren, Portemonnaie, Brief und Schlüssel einstecken, tief durchatmen, Tür hinter sich schließen, die Treppen runterlaufen.
    Das erste Mal seit dem Überfall ging er allein auf der Straße. Ein Blick nach rechts, ein Blick nach links, das Blumental sah aus wie immer. Gepflegte Stadthäuser mit kleinen Vorgärten, die Straße durch eine Reihe alter Kastanien in der Mitte geteilt. Lovis trabte los, unter dem frisch aufgebauten Gerüst des Nachbarhauses hindurch. Fassadenverschönerung, so was machte man gern im Blumental. »Nirgendwo in der Stadt gibt es prächtigere Fin-de-siècle-Häuser als in diesem Viertel«, stand in vielen Köln-Reiseführern. Zum Glück waren an diesem Morgen keine Chinesen unterwegs. Die liefen hier häufig in Rudeln herum und fotografierten, was das Zeugs hielt.
    Die

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