8 Tage im Juni
vergiss diesen Jungen und diesen bescheuerten Abend, schalt sie sich. Vokabeln lernen, Arbeitsblatt ausfüllen, nächstes Fach: Deutsch. Der Safranski durfte sie nicht schon wieder ohne Hausaufgaben unter die Augen treten. Kein Problem, sie musste nur Chantal anrufen, die konnte ihr sagen, was zu tun war. Blieb das Geld für die Klassenfahrt. Sie hatte glatt vergessen, nach der Post zu sehen, als sie nach Hause gekommen war. Das holte sie jetzt nach. Wieder kein Brief vom Jobcenter. Immer noch kein Geld für die Klassenfahrt. Vielleicht kam die Benachrichtigung ja morgen. Deutsch hatte sie erst übermorgen wieder. Und zur Not würde sie der Safranski ihre zusammengesparten fünfzig Euro als Anzahlung für die Fahrt geben. Irgendwann mussten diese Trantüten vom Jobcenter ja mal in die Pötte kommen.
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Lovis warf sich aufs Bett, krallte sich seine Kopfhörer und dröhnte sich den Kopf mit dem harten Sound von Metallica zu. In seinen Ohren schrie sich der alte James Hetfield die Seele aus dem Leib. Er schrie für ihn, denn nichts hätte Lovis im Augenblick lieber getan, als zu schreien. Aber er presste den Mund zusammen, diese verkrüppelte Ãffnung, die nur falsche Töne hervorbrachte, und fuhr in seinem Bett in Gedanken Achterbahn. Im einen Moment katapultierte die Bahn ihn in Windeseile aus der Hölle der U-Bahn-Station in den Olymp eines Gerichtssaales, wo die Schläger auf Knien um Gnade winselten. Wieder zurück in den U-Bahn-Schacht und zurück in den Gerichtssaal. Himmel, Hölle, Himmel, Hölle.
Der Hunger zwang ihn schlieÃlich, aufzustehen. Nachdem er sich in der Mikrowelle eine Lasagne erhitzt und sie schnell runtergeschlungen hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Vielleicht hatte sich Jenny schon gemeldet? In dem Brief stand auch seine Mailadresse. Quatsch, merkte er. Er hatte den Brief doch erst heute Morgen eingeworfen, bis morgen würde er schon auf eine Antwort warten müssen.
Schnell reagiert hatte allerdings Frau Krumholz. »Lieber Lovis«, schrieb sie. »Danke für deine Nachricht. Direkter Kontakt zwischen uns ist sowieso das Beste. Denn was immer wir in der Therapie machen, funktioniert nur, wenn du das willst. Es gibt viele Wege, wieder ans Sprechen zu kommen, Singen kann zum Beispiel helfen. Nur ein Weg funktioniert garantiert nicht: den Mund verschlieÃen. Schweigen. Melde dich, wenn du so weit bist. Diana Krumholz.«
Schnell wegklicken, sich bei Facebook einloggen. Nils war online. »Hey, Alter«, schrieb Lovis. »Alles in Butter?« »Gut von dir zu hören. Geht es schon besser? Kannst du wieder reden?«, schrieb der zurück. »Wird schon wieder«, tippte er in die Tastatur. Am Rechner fiel es leicht, cool zu sein. Die nächste Nachricht kam von Vera. »Habâs von Nils gehört. Ist ja echt schrecklich! Der pure Horror, man denkt doch immer, dass einem so was nie passiert. Du tust mir ja so leid. Macht nichts, wenn du mich beim Schulfest nicht auf der Gitarre begleiten kannst. Hauptsache, du wirst schnell wieder.« »Finger sind in Ordnung. Gitarre spielen geht bestimmt.« »Oh prima! Soll ich zum Ãben mal bei dir vorbeikommen? Morgen Nachmittag?« »Weià noch nicht. Melde mich.« Dann loggte er sich wieder aus.
Seine Gedanken kehrten zu Frau Krumholz zurück. Ausgerechnet Diana hieà sie! Diana, wie diese tote Prinzessin und wie die Göttin der Jagd. Die wollte ihn nur einfangen, um ihn dann mit diesen bescheuerten Sprech- und Atemübungen zu quälen! Wie eine Petze klang sie immerhin nicht. Nirgendwo drohte sie, Gustav davon zu unterrichten, dass er heute nicht bei ihr aufgelaufen war.
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Als es klingelte, schreckte Jenny aus einem Sekundenschlaf auf. Ein schneller Blick auf den Wecker. Schon halb sieben. Sie musste länger als ein paar Sekunden eingenickt sein. Sie hörte Joe-Joes kleine Schritte auf dem Weg zur Tür und Jasmin, die fragte: »Wer ist denn da?« Dann eine vertraute Stimme: »Frau Schwarzer, Sie sehen ja blendend aus.«
Toni. Was wollte Toni hier?
»Ich will Jenny abholen. Wir wollen ins Kino.«
Sie hatten keinen Termin ausgemacht, da war sich Jenny sicher. Sie hatte doch nur »Mal sehen« gesagt.
»Kino«, brüllte Joe-Joe. »Darf ich mit?«
»Jenny!« Jasmin klopfte an ihre Zimmertür. »Da ist Toni für dich.«
Jenny rieb sich den Schlaf aus den Augen und atmete einmal tief
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