8 Tage im Juni
Post befand sich ein paar StraÃen weiter am Sudermann-Platz. Die Postbeamtin musterte Lovis komisch, fast ein bisschen ängstlich, als sie ihm das Wechselgeld für die Briefmarke über den Verkaufstresen schob. Dachte sie, er wäre ein Schläger? Immerhin besser als ihn für das Opfer zu halten, das er ja gewesen war.
Laufen wollte er unten am Rhein, seine Lieblingsstrecke am Fluss entlang bis zum Niehler Hafen, mal sehen, wie gut seine Kondition nach dem Ãberfall schon war. Er startete immer an dem kleinen Park am Theodor-Heuss-Ring. Um da hinzugelangen, musste er aber noch den belebten Ebertplatz überqueren. Auf dem Weg über den Platz wich er jedem aus. Keinen lieà er näher als zwei Meter an sich herankommen. Immer wieder kontrollierte er, ob ihm jemand folgte oder von hinten zu nah kam.
Wie ein gefräÃiges Tier saà Lovis die Angst im Nacken und nicht nur da. Er spürte sie in jedem Winkel seines Körpers. Einmal Opfer, immer Opfer, flüsterte sie ihm ein, und dass er nirgendwo sicher war. Dass die Gefahr überall lauerte. Dass ihm der Ãberfall am Friesenplatz wie ein Kainsmal auf die Stirn geschrieben stand. Dass er Freiwild war für all die Typen, die ihr Mütchen an einem Schwächeren kühlen wollten.
Kein leichter Schritt wollte sich einstellen, als er in dem kleinen Park langsam sein Lauftempo steigerte. Seine FüÃe klebten am Boden fest, jede Bewegung war ein Kraftakt. Seine Muskeln rebellierten und wollten nicht trainiert werden, nachdem die Schläger ihn malträtiert hatten. Aufgeben? Sich zurück in die Wohnung schleichen? Lovis war knapp davor. Als eine ältere Joggerin, bestimmt schon um die fünfzig, ihn überholte, entschied er sich anders. Er könnte nicht mehr in den Spiegel blicken, wenn er so eine Mutti an sich vorbeziehen lieÃe. Mit all seiner Willenskraft mobilisierte er die müden Muskeln und Knochen. Am Rhein überholte er die Frau endlich. Nach ein paar Minuten, in denen er seinen Körper zu noch schnellerem Laufen zwang, hatte er sie weit hinter sich gelassen. Erschöpft fiel er dann in einen gemächlichen Trab, bemerkte aber erfreut, dass ihm seine FüÃe die Tortur mit einem leichteren Schritt dankten. Als hätte er durch die Anstrengung das Blei aus seinem Körper geschwitzt.
Die Strecke kannte er wie seine Westentasche. Zwei bis dreimal die Woche lief er sie. Mal acht, mal zwölf Kilometer, je nachdem wie viel Zeit er hatte. Meist am späten Nachmittag oder frühen Abend. Vormittags höchstens mal am Wochenende, nie unter der Woche. Er registrierte erleichtert, wie wenig hier an einem Wochenvormittag los war. Ein paar andere Läufer, wenige Mütter mit Kinderwagen, noch weniger Touristen. Lovis spürte, wie sich die Angst ein wenig zurückzog. Er riskierte einen Blick zum Himmel, blitzblau mit Schäfchenwölkchen, und einen auf den Fluss, wo sich durch glitzernde Wellen ein schwer beladenes Containerschiff stromaufwärts schob. Sein Brustkorb weitete sich, es tat gut, die vertrauten Bilder zu sehen, die auch nach dem Ãberfall Bestand hatten. Bald lief er unter der Zoobrücke durch. Danach verebbte die Uferbebauung, der Weg führte nun durch satte grüne Wiesen, auf denen eine Schafherde weidete. Ein Hund trieb trödelnde Tiere zur Herde zurück. Die knorrigen Weiden am Ufer schaukelten sanft im Wind. Ein ländliches Idyll mitten in der Stadt, nichts als Ruhe und Frieden. Vielleicht, dachte Lovis zum ersten Mal seit dem Ãberfall, gab es auch für ihn irgendwann wieder ein angstfreies und friedliches Leben.
Aber so leicht lieà sich das gefräÃige Vieh in ihm nicht vertreiben. Als Lovis auf dem Nachhauseweg beim Ãberqueren des Ebertplatzes drei hormongesteuerte Bodybuilder-Typen am Brunnen in der Mitte des Platzes herumlungern sah, beschleunigte sich sein Herzschlag in Windeseile von null auf hundert. Die Angst hatte ihn wieder fest im Griff.
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Fast hätte Jenny an diesem Tag vergessen, Joe-Joe aus der Ãbermittagbetreuung der Grundschule abzuholen, so sehr wirbelten die Gedanken an die Mädchen-WG ihren Kopf durcheinander. In der Bahn nervte sie der Kleine mit albernen Geschichten aus der Schule. Wenn er doch nur einmal den Mund halten könnte! Wie sollte sie eine richtige Entscheidung treffen, ohne in Ruhe darüber nachdenken zu können? Ein eigenes Zimmer! Die Tür hinter sich zumachen, allein sein können, so
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