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8 Tage im Juni

8 Tage im Juni

Titel: 8 Tage im Juni Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Glaser
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merkte, wie seine Zunge sich selbstständig machte und in Jennys Mund hineindrängelte, und von dort wagte Jennys Zunge den Weg in seinen Mund. Ohne seinen Mund von dem ihren zu lösen, drückte er Jenny unter Wasser und wäre am liebsten nie wieder aufgetaucht. Weil dies alles so irre, so unglaublich, so perfekt war, dass er sich wünschte, diesen Augenblick für alle Zeiten anzuhalten.
    Sie prusteten wie verrückt, als sie wieder auftauchten.
    Â»Es wird kalt, wir sollten mal aus dem Wasser raus«, sagte Jenny, als sie wieder reden konnte.
    Wenig später kletterten sie über das Drehkreuz und liefen dann Hand in Hand zur Haltestelle. Die nächste Bahn war in fünf Minuten angekündigt, sie waren die Einzigen, die warteten. Lovis spürte, wie die Angst zurückkam – und das Glücksgefühl aus dem Schwimmbad überlagerte. Wie die Angst ihm die Bilder von dem Überfall schickte. Wie er den Schmerz wieder spürte und die Ohnmacht.
    Â»Sag mal«, sagte Jenny da, »wohnst du eigentlich nur mit deinem Vater zusammen? Was ist mit deiner Mutter?«
    Â»Sie lebt i-i-in Ru-Russland.« Kaum regte er sich ein bisschen auf, stotterte er wieder heftiger. Über Larissa redete er nicht besonders gerne, aber immer noch lieber als über den Überfall.
    Â»Und wieso hat sie dich nicht mitgenommen?«
    O, wenn Jenny wüsste, wie viele Gedanken er sich zu dieser Frage gemacht hatte! Er war fünf, als Larissa ging. Von einem Tag auf den anderen war sie einfach nicht mehr da gewesen, und er kapierte nicht, warum. Hatte er etwas falsch gemacht? Oder Gustav? Oder sie beide? Er war völlig durcheinander gewesen und hatte zu stottern begonnen. Die nervigen Therapiestunden mit Frau Wittkämper, die hänselnden Kinder, der verletzte Gustav, der nicht verstand, warum seine Frau gegangen war. Larissa hatte sich wieder gemeldet, irgendwann. Telefonate voller Tränen, Päckchen mit Spielzeug, manchmal kam sie für ein paar Tage. Aber er traute ihr nicht mehr. Wie konnte sie ihn lieben und trotzdem zurücklassen?
    Â»E-e-es hat lang gebraucht, bis ich das kapiert habe«, erklärte er Jenny. »Meine Eltern sind wie Feuer und Wasser. Das konnte a-a-auf die Dauer nicht gut gehen. U-u-und Larissa wollte nach Russland zurück. Sie haben e-e-entschieden, dass i-ich in Deutschland a-a-aufwachsen soll.«
    Â»Hast du Kontakt zu ihr?«, fragte Jenny, als die Bahn einfuhr.
    Sie stiegen ein. Lovis merkte, dass Jenny den Waggon genauso abcheckte wie er. Zwei Omas, eine Türkenfamilie, zwei Liebespaare. Keine Gefahr.
    Â»Wir mailen und telefonieren. I-in den Sommerferien besuche i-i-ich sie.«
    Eigentlich hatte er sich gefreut auf Larissas Datscha. Genauso wie auf die USA-Reise mit Gustav. Aber im Augenblick wollte er in den Sommerferien nur eines: mit Jenny zusammen sein.
    Â»U-u-und du?«, fragte er. »Wie lebst du?«
    Â»Zusammen mit meiner Mutter und meinem kleinen Bruder Joe-Joe«, erklärte sie. »Meinen Vater kenn ich nicht. Ein Schausteller, Herr über den wildesten Rollercoaster Europas, erzählt meine Mutter. Ich stell mir vor, dass er ein ganz cooles Leben führt. Immer unterwegs und so.«
    Â»A-a-aber u-um dich hat e-er sich nie gekümmert?«
    Â»Er weiß gar nicht, dass es mich gibt. Meine Mutter ist nur einmal mit ihm in die Kiste gestiegen. Sie kennt grad mal seinen Vornamen. Charly.«
    Â»Würdest du i-ihn gern kennenlernen?«
    Diese Frage hatte sie sich oft gestellt. Jahrelang hatte sie sich vor dem Einschlafen ein Bild von diesem Charly ausgemalt. Jahrelang auf jedem Rummel jeden Rollercoaster-Betreiber gefragt, ob er Charly hieß.
    Â»Ist mir nicht mehr wichtig«, antwortete sie. »Ich hab ja ein Bild von ihm im Kopf. Stell dir vor, ich lerne ihn wirklich kennen und er entpuppt sich als ein totaler Versager …«
    Auf der Anzeigentafel der Bahn leuchtete als nächste Station »Wiener Platz« auf. Nein, dachte Lovis erschreckt. Noch nicht! Er wollte sich nicht von Jenny trennen. Doch Jenny ließ seine Hand schon los, die sie bisher gehalten hatte, und griff nach ihrer Plastiktüte.
    Â»Sehen wir u-uns morgen?«, fragte er.
    Â»Ja«, antwortete sie, küsste ihn zum Abschied und lief zur Tür.
    Er presste sein Gesicht an die Scheibe und sah, wie sie ausstieg, ihm noch einen Luftkuss schickte. Dann zog er seine Tasche nah zu sich hin, als könnte er die Leere nicht

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