80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
ruhigen, den Touristen zugänglichen Stellen des Hafens, nicht mitten im Durcheinander der Docks.
Und Museumsschiffe waren frisch lackiert, nicht verschimmelt und schmutzig wie dieses.
Sir Darren wurde von diesem ungewöhnlichen Hafengast angezogen. In der Ferne, am Rande der hektischen Ladezone, sah er ein junges Pärchen stehen. Das Mädchen hatte rotblondes Haar und mochte erst siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein, und es zog an der Hand des Mannes und zeigte herüber, auf das Schiff. Der Mann zuckte immerzu die Schultern, als verstehe er nicht, was sie ihm zeigen wollte.
Begriff er nicht, dass das Mädchen fasziniert von diesem Artefakt aus vergangenen Zeiten war? Fand er die zyklopischen Maschinen, die die Lasten verluden, beeindruckender?
Oder … sah er das Schiff etwa nicht?
Jetzt war der Brite nahe genug herangekommen, um das Holz knarren zu hören. Der Hafenlärm war wie ausgeblendet. Er glaubte sogar Schritte an Deck zu vernehmen, schwere, bedächtige Schritte wie von jemandem, der ohne Eile nachdenklich dort oben hin und her ging. Auch der Name des Schiffes war nun zu erkennen: Er stand in riesigen, wenngleich ausgewaschenen grauen Buchstaben auf dem Holz.
LIBERA NOS.
Das war Lateinisch und bedeutete „Befreie uns“. Es kam im Vaterunser vor, an der Stelle, die auf Deutsch gewöhnlich mit „Erlöse uns von dem Bösen“ übersetzt wurde. Der lateinische Originaltext lautete „Libera nos a malo“. Ein nicht ganz alltäglicher Name für ein holländisches Segelschiff.
Doch das war es nicht, was Sir Darren verblüffte. So sehr verblüffte, dass er wie vom Donner gerührt stehen blieb, den Kopf in den Nacken legte und an die Reling hinauf starrte.
Er kannte den Namen des Schiffes.
Die Libera Nos war das Schiff eines holländischen Kapitäns aus dem 17. Jahrhundert gewesen. Sein Name war Bernard Fokke und seine Berühmtheit von ganz besonderer Art – obwohl er eine historisch verbürgte Figur war, kannte man ihn, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit einer ganz bestimmten Legende.
Der Legende vom Fliegenden Holländer.
Die Geschichte von dem Geisterschiff existierte in zahlreichen Varianten. Sie tauchte in Romanen und Theaterstücken ebenso auf wie in der berühmten Oper von Wagner. Wagner nannte den Kapitän Vanderdecken, offenbar inspiriert von dem Abenteuerroman „The Phantom Ship“ von Frederick Marryat, einem Bestsellerautor des 19. Jahrhunderts. Doch „Vanderdecken“ bedeutete nichts anderes als „An Deck“ und war mit Sicherheit nicht der Name einer real existierenden Person, sondern eine Erfindung eines Romanschriftstellers. Den tollkühnen Kapitän Fokke allerdings hatte es tatsächlich gegeben. Vor über dreihundert Jahren war er für die ostindische Gesellschaft gefahren. „Der fliegende Holländer“, so hieß es in einer glaubhafteren Version der Legende, sei nicht etwa der Name des Schiffes, sondern der Spitzname des Kapitäns, der die Strecke von Java nach Holland in nur 90 Tagen zurückgelegt hatte und damit in weniger als der Hälfte der damals üblichen Zeit. Ein guter Grund, ihm zu unterstellen, er hätte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.
Während sich Sir Darren mehr und mehr in wirren Gedanken verstrickte, erschien oben an der Reling ein Schatten. Eine dunkle Gestalt war es, schwarzhaarig, zerzaust und bärtig, riesenhaft und imposant selbst aus der Entfernung.
„Du da!“, grollte eine tiefe Stimme. „Du da unten! Du willst doch nicht etwa anmustern?“
„Nein, ich …“ Hatte Sir Darren tatsächlich geantwortet? Er war so überrascht gewesen, angesprochen zu werden, dass er unwillkürlich zwei Schritte zurückgewichen war. Warum konnte der Mann da oben ihn sehen?
„Nicht?“, knurrte der Zottige zurück. „Was stehst du dann vor meinem Schiff wie eine verdammte Galionsfigur?“
Die Libera Nos. Libera nos a malo. Deliver us from evil. Erlöse uns von dem Bösen.
Das Formular, das er ausgefüllt hatte. Flying Dutchman. Sammeln Sie Meilen. Nutzen Sie unsere Rabatte. Werden Sie eines von Millionen Mitgliedern.
Der Club, dem er beigetreten war. Wenn Sie unsere Gesellschaft ertragen, sind Sie ein Mitglied. – In diesem Fall bin ich es wohl tatsächlich.
Die Wette, die er abgeschlossen hatte. Sagen wir, achtzig Tage. Es war alles schon einmal da.
Bernard Fokke.
In neunzig Tagen von Java nach Holland. Mit des Teufels Hilfe.
In achtzig Tagen um die Welt. Auf dem Seeweg.
Sir Darren hustete. „Sind Sie … sind Sie Kapitän Bernard
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