Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
zwei Wochen auf diesem Schiff aufhielt, dazu kamen noch zwei, drei Tage auf dem uralten Schiff bis zum Sturz in den Strudel. Zusammen mit den acht Wochen, die davor abgelaufen waren, ergab die Addition maximal 73 Tage. Ihm blieb also noch eine ganze Woche.
    Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand, und er hielt eine Rückkehr nach Amsterdam binnen einer Woche für ausgeschlossen, aber allein die Tatsache, dass seine Frist noch nicht abgelaufen war, erfüllte ihn mit Euphorie.
    Die Hoffnung, sagte man, starb zuletzt.
    Zitternd vor Aufregung stolperte er an die Reling und sah auf das Meer hinaus. Die Wasserschlangen, die silberne Spuren in die vom Mondlicht beschienene See zogen, erschienen ihm plötzlich wunderschön. Von den krabbelnden Spinnen war nichts mehr zu sehen, und er hielt es für möglich, dass er sich sie und die Kadaver der Fische nur eingebildet hatte. Das Wasser wirkte kühl und frisch, und von der schlammigen Zähigkeit des Ozeans war nichts mehr übrig. War das alles real gewesen, oder hatte es nur in seinem Kopf stattgefunden? War der dicke Schleim des Meeres der Eiter gewesen, der aus den Wunden in seinem Verstand sickerte, welche ihm das Ungeheuer beigebracht hatte?
    Gott, wie schön die Welt auf einmal war! Er schickte einen Dank hinaus, an die Natur, an das Schicksal, an jede Macht und jedes Wesen, das dafür empfänglich sein mochte. Weit beugte er sich über die Reling, sah hinab auf das Wasser, und der Albatros um seinen Hals, den er noch nicht abzunehmen gewagt hatte, wurde immer schwerer und schwerer, bis schließlich die Schnur riss. Der Vogel fiel wie ein Bleigewicht hinab, klatschte ins Meer und verschwand in der Tiefe.
    Erleichtert schwankte Sir Darren zurück, legte sich unweit der Toten aufs Deck und fiel in einen erholsamen Schlaf, der ihm in den Nächten meistenteils verwehrt geblieben war. Er träumte, dass die ausgetrockneten Eimer sich mit Tau füllten, und als er am Abend erwachte, regnete es. Er hatte das erfrischende Nass schon getrunken, ohne es mitzubekommen – seine Kehle war feucht, seine Kleider vom Regen durchtränkt. Er fühlte sich so leicht, dass er glaubte, er hätte ein weiteres Mal seinen Körper aus Fleisch und Blut verlassen und wäre zu einem Geist geworden. Ein Wind aus der Ferne füllte die Segel, aufs Neue erschienen die Sterne und der Mond am Himmel. Das Schiff setzte sich in Bewegung, und als sich die dicken Regenwolken vor dem Mond verzogen hatten, kam Leben in die Leichen der Seemänner.
    Sie erhoben sich, wie von unsichtbaren Fäden geführt, und begannen ihre Arbeit. Sir Darren sah einigen Matrosen in die Augen, die zuvor mit ihm geredet hatten, auch jenem, der seinen Arm eingerenkt und ihn auf den Schultern herumgetragen hatte, doch sie schienen ihn nicht zu erkennen und sprachen kein Wort. Es waren nicht ihre Seelen, die zurückgekehrt waren, sondern ein fremder Einfluss, der sie bewegte.
    Als der nächste Morgen anbrach, fielen sie rund um den Mast zu Boden, und die Geister, die sie belebt hatten, flohen mit einem melodischen Seufzen durch ihren Mund. Das Schiff glitt unter der Sonne dahin.
    Die Brise blieb stetig und zuverlässig. Sie schien genau aus südlicher Richtung zu wehen. Das Meer in ihrer Umgebung jedoch war unruhig. Die Verwirbelungen des Fahrwassers bildeten merkwürdige Muster, und es sah aus, als winde sich ein riesiges Wesen unter ihnen, falle immer wieder weit hinter das Heck zurück, nur um dann wieder aufzuholen und eine Zeitlang das Wasser rund um das Schiff aufzuwühlen.
    Das Wesen, das sie verfolgte? Warum verhielt es sich plötzlich wie ein waidwundes Tier, während es sie bislang vollkommen unbemerkt verfolgt hatte?
    Wohin führte sie ihr Weg? In der Ballade erreichte der alte Seemann seine Heimat, einen Ort, der zwar nicht namentlich genannt wurde, bei dem es sich aber ohne Zweifel um eine Hafenstadt in Großbritannien handeln musste, denn der Dichter war Brite gewesen und seine Figur ebenso. Konnten sie es schaffen, in der letzten Woche, die ihm noch blieb? Selbst wenn er innerhalb der Frist britischen Boden erreichte, war er noch nicht in Amsterdam. Würde es am Ende um Stunden oder Minuten gehen?
    Sechs Tage, nachdem die Windstille geendet hatte, kam Land in Sicht. Aufgeregt blickte der Passagier hinaus, um zu sehen, um welche Küste es sich handelte. Rein rechnerisch mussten sie sich nach wie vor auf der südlichen Halbkugel befinden. In drei Wochen kam man nicht vom Südpol bis nach Europa. Andererseits

Weitere Kostenlose Bücher