80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
auf dem Vordeck standen zwei Gestalten. Keine von beiden war ein Mensch.
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Ein Mann und eine Frau waren es – falls man den skelettierten Körper im Kapitänsgewand einen Mann nennen durfte und das Albtraumgeschöpf mit sinnlichen roten Lippen, blondem Lockenhaar und leichenblasser Haut eine Frau.
Sir Darren hatte nie begriffen, woher der Seemann im Gedicht den Namen der Frau kannte. Er identifizierte sie als „Leben-im-Tod“, ein Höllengeschöpf, das, wie er sagte, jedem Menschen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Diese Stelle hatte ihm nie eingeleuchtet, denn das Wesen gehörte keineswegs zu den Standardfiguren aus den Seefahrerlegenden. Diese Frau tauchte nur in diesem Gedicht auf, doch die Hauptperson kannte sie mit Namen, ohne dass sie sich ihm vorgestellt hätte. Er erinnerte sich daran, seine Lehrerin auf diese Unlogik hingewiesen und keine Antwort erhalten zu haben.
Gewissermaßen hatte er die Erklärung nun bekommen. Er, Sir Darren, kannte ihren Namen, weil er das Gedicht kannte. Und wenn man dieser abstrusen Logik folgte, erhellte sich auch das zweite große Rätsel der Ballade, das keine Interpretation bisher zufriedenstellend hatte lösen können: Warum hatte der Seemann den Albatros überhaupt getötet? Nirgendwo im Gedicht fand man auch nur die Andeutung eines Motivs für die Tat, die all die Schrecken auslöste.
Er, Sir Darren, hatte den Vogel getötet, weil er das Gedicht kannte. Dinge geschahen, weil er wusste, dass sie geschehen würden. Eine Logik-Schleife war geboren worden, und sie schien die strittigen Stellen der Ballade zu erklären. Was für eine schreckliche Art und Weise, Literaturwissenschaft zu betreiben!
Der Rumpf des fremden Gefährts war ihrem Schiff nun zum Greifen nahe. An Bord waren die beiden Gestalten zu sehen, und sie spielten mit Würfeln, die aus Knochen geschnitzt zu sein schienen. Die Frau namens „Leben-im-Tod“ schien das Spiel für sich entschieden zu haben, und nahezu gleichzeitig versank der letzte Streifen Sonne im Ozean, die Nacht senkte sich mit großer Eile über sie herab, die Sterne kamen hervor wie die glühenden Augen nächtlicher Raubtiere.
„Leben-im-Tod“ siegte über den Tod. Was bedeutete das? Auch darüber hatten sie einen Aufsatz geschrieben, und wenn er sich recht entsann, hatte er darin eine verschlungene Argumentation über das Fortbestehen von Geistern nach dem Tod entwickelt, ein Thema, das ihn schon in frühen Kinderjahren interessiert und fasziniert hatte. Seine Lehrerin, die den spiritistischen Argumenten nicht folgen konnte, hatte den Text wenig erfreulich benotet, während sie einigen seiner Klassenkameraden, die brav Parallelen zur christlichen Lehre aufgezeigt hatten, großzügige Zensuren schenkte.
Jetzt blieb ihm keine Zeit, die Ideen, die er damals angedacht hatte, zu Ende zu verfolgen. Der Mond erschien am Himmel, gefolgt von einem einzelnen Stern, und es geschah, was die magische Realität der alten Ballade verlangte – die Matrosen drehten ihm die Gesichter zu, und mit ihren Blicken verfluchten sie ihn. Es war schlimmer als die körperlichen Schmerzen, die sie ihm Tage zuvor zugefügt hatten. Furchtbarer als der kalte, verzweifelte Hass in ihren Augen war höchstens seine eigene Angst, die sich in den Augen des Ungeheuers gespiegelt hatte, das sie in neun Faden Tiefe verfolgte.
Einer nach dem anderen brachen die Männer nieder. Lautlos starben sie, ohne ein Stöhnen oder Seufzen, leblos fielen ihre Körper auf das Deck. Die Seelen flohen aus ihren Körpern, und welchen Weg sie auch immer einschlagen mochten, sie sirrten unmittelbar an dem Verfluchten vorüber, und jede einzelne von ihnen machte dabei das Geräusch eines Pfeils, der aus einer Armbrust schnellt …
Eine entsetzliche Einsamkeit überkam Sir Darren, als er sah, dass er tatsächlich der einzige war, der nicht zu Boden gegangen war. Hastig wandte er sich zu dem fremden Schiff um, denn er hatte Fragen, so viele Fragen über das Leben, den Tod, über das Leben im Tod , über das Wesen in neun Faden Tiefe, über alles, was mit ihm geschah.
Doch das Schiff war verschwunden, und er war nun in der Tat vollkommen allein auf dem Ozean. Die Leichen von zweihundert Männern lagen unordentlich verstreut, wie niedergemäht, und es war leicht zu verstehen, warum man sich den Tod als Sensenmann vorstellte. Das Mondlicht verlieh selbst ihren toten Gesichtern noch Schönheit und Würde, und das machte es noch unerträglicher, dass sie hatten sterben müssen – wegen
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