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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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dann erneut zum Sündenbock – wie ein billiger Talisman, der von Hand zu Hand ging und mal Glück, mal Unglück zu bringen schien, je nachdem, woran sein Besitzer glaubte.
    Die Trockenheit und Windstille hielt an, viele der Seeleute waren vom Durst ohnmächtig geworden, delirierten und träumten ihre Träume von der Kreatur, die ihnen vom Eismeer bis in diesen sumpfigen Pfuhl gefolgt war. Sir Darren fühlte noch immer die Angst, wenn er an das Wesen dachte, und so lange er lebte, würde er wohl nie schwach genug sein, um sie zu vergessen.
    Angestrengt blickte er nach Westen, seine Augen ausgetrocknet. Es gab nicht einmal mehr genügend Flüssigkeit in seinem Körper, um Tränen zu produzieren, und er wusste, dass sein Blut schon bald so dick und schlammig sein würde wie das Meer, das sie umgab.
    Die Rettung würde aus dem Westen kommen – doch es würde eine Rettung sein, die alles noch viel schlimmer machte.
    Am Horizont war jetzt ein kleiner Fleck auszumachen. Er verschwamm zu einem Nebel, wenn er lange auf denselben Punkt starrte, deshalb zwang er sich, den Blick immer wieder abzuwenden, die Augen für einen Moment zu schließen (auf die Gefahr hin, sie nie wieder öffnen zu können) und das Objekt aufs Neue zu suchen. Als er dies mehrmals wiederholt hatte, konnte er die feste Form eines Schiffes in dem verwaschenen Klecks erkennen. Kein Zweifel, es war das, worauf er gewartet hatte! Das Schiff kam mit heftigen, flinken Bewegungen auf sie zu, eine Unmöglichkeit in der dickflüssigen Brühe, in der sie schwammen. Und doch geschah es.
    Er wusste, dass er die anderen auf seine Entdeckung aufmerksam machen musste, und er wusste, wie der alte Seemann es in dem Gedicht getan hatte, doch er hoffte inständig, nicht zu derselben extremen Methode greifen zu müssen. Mochte er auch ausgetrocknet sein, seine Kehle musste doch noch in der Lage sein, einen einzigen kraftvollen Ruf auszustoßen.
    A sail , würde er rufen – ein Segel ! Zwei Silben, laut genug, damit wenigstens eine Handvoll der Matrosen sie hörten. Er stieß die Luft aus und versuchte sie in die beiden Wörter zu formen, doch sein Hals ließ den Atem ungehindert passieren, der Kehlkopf rührte sich nicht, die Stimmbänder schwangen nicht, seine Zunge klebte nutzlos am Gaumen. Er unternahm weitere Versuche mit demselben Ergebnis.
    Es ging nicht. Seine Stimme war versiegt.
    Zitternd und einer Ohnmacht nahe hob er seinen rechten Arm, drehte die Innenseite nach außen und legte seine Lippen auf die ausgetrocknete, lederartige Haut. Noch schlug sein Herz, wie es schien, mit seltsamen, raschelnden Lauten in seiner Brust. Mühsam zog er seine Lippen zurück, berührte mit seinen Zähnen den Arm und war dankbar, dass es noch nicht die dritten waren … Kraftvoll biss er zu, und es war erstaunlich schwierig, seine Haut, sein Fleisch zu durchdringen, bis das Blut aus seinen Adern in seinen Mund sprudelte.
    Er nahm einen großen Schluck, dann noch einen kleinen, schaffte es, seine Zunge vom Gaumen zu lösen, und befeuchtete mit seinem eigenen Lebenssaft die Lippen und das Innere des Mundes.
    „Ein Segel!“, rief er, und diesmal funktionierten seine frisch mit Blut geölten Sprechwerkzeuge.
    Die Männer vernahmen seinen Ruf, und die Kräftigeren unter ihnen erhoben sich, die Lippen hart und schwarz wie verbranntes Backwerk, brechend und blutend, als sich auf ihnen ein Lächeln formte. Ob sie das Schiff mit eigenen Augen sahen, oder ob sie ihrem Passagier blind Glauben schenkten, war nicht sicher – aber viele von ihnen sogen nahezu gleichzeitig die Luft ein, und es klang, als würden sie Wasser trinken.
    Das Schiff tanzte zunächst auf den Wellen einer weit entfernten, flüssigen See, doch je näher es kam, desto ruhiger wurde seine Fahrt. In gerader Linie fuhr es über den Sumpf, ohne Wind, ohne Strömung, einfach aus eigener Kraft. Selbst für ein modernes Motorboot wäre unter diesen Bedingungen kein Durchkommen gewesen, doch das fremde Schiff hatte keine Schwierigkeiten.
    Der westliche Himmel stand in Flammen, als die Sonne sich dem Horizont näherte und der Tag dem Ende entgegenging. Unter den Augen aller schob sich das Schiff vor die untergehende Sonne. Die Segel leuchteten, und es sah aus, als blinzle die Sonne für einige Minuten wie eine Gefangene durch das Gitter ihrer Masten und Rahen.
    Sie waren einander jetzt so nah, dass die Männer einen Blick auf die Besatzung werfen konnten. Matrosen waren keine zu sehen, weder in der Takelung, noch an Deck, doch

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