Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
9 - Die Wiederkehr: Thriller

9 - Die Wiederkehr: Thriller

Titel: 9 - Die Wiederkehr: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Pen , Nadine Mutz , Hanna Grzimek
Vom Netzwerk:
Die Köpfe drehten sich, die Münder klappten auf. Alle Blicke richteten sich erst auf Schramme, dann auf Leo. Der zuckte nur mit den Schultern. Schließlich hob er den Kopf und blickte in die Runde. Auf Schramme. Er führte eine Hand an die Stirn, um sein offenes Auge abzuschirmen.
    Schramme versuchte, dem Blick standzuhalten, aber er musste zur Seite sehen, um sich zu vergewissern, welchen Eindruck seine Worte bei den anderen hinterlassen hatten. Denn was er gesagt hatte, war nicht nur irgendein dummer Spruch. Er hatte das unaussprechliche Geheimnis des Open in aller Öffentlichkeit herausgeschrien. Das Geheimnis, das den Laden des Amerikaners für die Kinder von Arenas zum perfekten Gruselort machte, zu einem Ort, um den sich ihre schaurigsten Geschichten rankten. Über die Schießerei vor ein paar Jahren. Und den jungen Mann, der dort sein Leben verloren hatte. Natürlich hatten die Kinder ihre Eltern oder großen Geschwister schon einmal darüber reden hören. Oder an der Supermarktkasse die eine oder andere Unterhaltung belauscht. Aber der Blick, den man ihnen gleich darauf zuwarf, und der abrupte Themenwechsel, zu dem sich die Erwachsenen jedes Mal zwangen, hatte allen Kindern der Stadt zu verstehen gegeben, dass es tabu war, darüber zu sprechen. So wie auch niemand über die schemenhafte Gestalt sprach, die man nur noch selten hinter den Wohnzimmervorhängen des Hauses am Ende des Feldwegs auftauchen sah. Das Open barg ein Geheimnis, das man mit niemandem teilen durfte. Schon gar nicht am helllichten Tag und auf offener Straße.
    Vielleicht, um das Schweigen zu brechen, vor allem aber, weil er nicht die geringste Spur von Unsicherheit oder Schwäche zeigen wollte, plusterte sich Schramme zum zweiten Mal an diesem Nachmittag auf und starrte Leo durchdringend an. Dann sagte er zu ihm: »Du bist ein Angsthase.« Und aus vollem Halse schrie er: »Angsthase!«
    Schramme wandte sich zu Edgar um, seinem neuen Freund. Mit einem Kopfnicken deutete er auf Leo. Edgar verstand die Anweisung.
    »Angsthase!«, stimmte er in Schrammes Schmählied ein. »Angsthase! Angsthase!«
    Zu zweit wiederholten sie das Wort im Chor. Eine dritte Stimme schloss sich an. Dann eine vierte. Auch die beiden ängstlichen Mädchen, die sich zuvor bei den Händen gefasst hatten, machten mit. Und schon war die ganze Klasse gegen Leo. Dann rief jemand »Feigling«, und das neue Wort wurde nach und nach von den anderen Stimmen aufgegriffen, bis der Chor geschlossen die neue Parole brüllte.
    Da drang das Hupen eines Autos durch das Geschrei der wild gewordenen Meute. Obwohl die Ampel auf Rot gesprungen war, standen die Kinder noch mitten auf der Straße. Die Frau am Steuer trat mehrere Male kurz hintereinander aufs Gaspedal. Außerdem schnippte sie nervös mit den Fingernägeln, indem sie den Daumennagel und den Zeigefingernagel immer wieder miteinander verhakte und löste. Dann schlug sie noch einmal, diesmal mit voller Wucht, auf das Lenkrad ein. Sie hielt die Hupe gedrückt, um den Lärm der Kinder zu übertönen. Das Geschrei verstummte, und als Schramme nun beschloss, die Straße in Richtung des Ladens zu überqueren, folgten ihm die anderen auf dem Fuß. Leo blieb allein vor dem Schultor zurück, während die Schar von Kindern, die noch am Morgen seine Freunde hätten werden können, sich für immer von ihm entfernte und im Flüsterton falsche oder wahre Geschichten – das spielte keine Rolle – über die legendäre Schießerei im Open austauschte.
    Die Frau nahm die Hand von der Hupe und versuchte weiterzufahren. Sie musste mehrmals bremsen, um die letzten Nachzügler über die Straße zu lassen. Dabei zog sie unwillkürlich die Oberlippe hoch, sodass man ihr Zahnfleisch sehen konnte. Als sie endlich bis auf Höhe der Ampel vorgerückt war, hielt sie an und warf Leo einen auffordernden Blick zu.
    Der Junge kletterte auf den Beifahrersitz.
    »Mama, versprich mir, dass du mich jeden Tag abholst«, bat er.
    Victoria bemerkte den traurigen Blick ihres Sohnes. Derselbe Junge hatte sie am Morgen in aller Frühe geweckt, weil er seinen ersten Schultag kaum erwarten konnte. Ihr entging auch nicht, wie sich auf der anderen Straßenseite eine Gruppe von Kindern auf der kleinen Grünfläche vor dem Laden des Amerikaners balgte. Da spürte sie zum ersten Mal jenes Stechen in der Magengegend, das sie in Zukunft noch so oft quälen sollte. Sie beugte sich zu Leo und umarmte ihn.
    »Versprochen«, sagte sie.
    Leo blickte über die Schulter der Mutter

Weitere Kostenlose Bücher