9 - Die Wiederkehr: Thriller
fragte lediglich, was sie zu tun gedenke, wenn sie bald nicht mehr bei ihnen arbeitete, denn das sei der Fall angesichts der »schwerwiegenden Folgen, die dein unbedachtes Verhalten hatte« – das waren Amadors Worte.
»In mein Land zurückkehren, um meine kleinen Töchter in die Arme zu schließen«, hatte Linda mit ihrem salvadorianischen Akzent geantwortet und an das Bild der beiden Mädchen an der Wand über ihrem Bett gedacht, auf dem sie seit zwei Jahren nicht gewachsen waren. Und als Victoria von Lindas Antwort auf Amadors Frage erfuhr, hatte sie Amador angeschrien und von ihm verlangt, sie auf der Stelle hinauszuwerfen. »Sie geht morgen früh, wir können uns eine weitere Szene sparen«, hatte er erwidert. Und da war Victoria zu Leos Zimmer gerannt, um ihn in die Arme zu schließen, doch bei der Berührung des Türknaufs war ihre Hand zu Eis erstarrt. Sie hatte nicht mehr gewusst, wie man die Tür öffnete.
»Geh durch den Garten«, sagte sie erneut.
Es läutete wieder, ein hoher und zwei tiefe Töne.
Linda hob den Blick und sah Victoria an. Als sie etwas sagen wollte, schüttelte diese den Kopf. Gern wäre Linda in Leos Zimmer gegangen, um ihm die Kissen aufzuschütteln.
Sie wandte sich um und ging die Treppe hinunter. Auf halbem Wege hörte sie ihren Namen und hielt inne.
»Linda«, hörte sie die Stimme hinter sich sagen. »Wenn du deine Töchter in die Arme schließt, denk daran, warum ich das mit meinem Sohn nicht mehr tun kann.« Die Stimme verstummte kurz. »Hättest du uns den Brief gezeigt …«
»Dieser Brief hätte nichts geändert«, traute sich Linda, auf einmal wütend, zu entgegnen. »Und Sie haben Ihren Sohn auch vorher nicht in die Arme geschlossen.«
Als sie sich wieder gefasst hatte, ging sie weiter die mit Teppich ausgelegte Treppe hinunter.
Wieder läutete es an der Tür. Linda sah den Koffer an, den sie an der Haustür abgestellt hatte. Sie ging durch den Eingangsbereich darauf zu. Als die Klingel zum vierten Mal ertönte, erinnerte sie sich an Victorias Anordnung. Dann nahm sie ihr Gepäck und öffnete trotzdem die Tür.
Draußen standen ein Mann auf Krücken und eine Frau. Linda ging an ihnen vorbei und stieß dabei mit dem Koffer gegen eine der Krücken. Sie bat um Entschuldigung. Dann zog sie den Griff an ihrem Koffer heraus, atmete einmal tief durch und verließ das Haus, das niemals ihr Zuhause gewesen war. Alle paar Meter blieben die Kofferräder im Kies stecken.
»Hallo?«, rief Andrea ins Hausinnere hinein. »Victoria? Ich bin’s, Andrea.«
Wieder stand Victoria da, mit einer reglosen Hand, die einen Türknauf umfasst hielt, von dem sie nicht mehr wusste, wie man ihn zu drehen hatte. Sie rüttelte noch einmal an ihm, bevor sie ihn losließ, als hätte sie sich daran verbrannt. Sie lehnte die Stirn an die Tür. Streichelte sie mit beiden Händen. Legte ein Ohr dicht an das Holz, um ihren Sohn im Zimmer dahinter hören zu können. Zweimal schlug sie mit dem Kopf dagegen.
»Ich habe dir mitgebracht, worum du mich gebeten hast«, war von unten zu hören,
Victoria ging die Treppe hinunter. Erst langsam, indem sie beide Füße auf eine Stufe setzte, bevor sie die nächste nahm. Dann gewann sie die Fassung zurück und ging eilig auf die Haustür zu, wobei ihre Absätze gegen den Boden hämmerten wie Kriegsgetrommel.
Auf der anderen Seite der Türschwelle sah sie Andrea und neben ihr einen Mann, der vermutlich einmal gut gebaut gewesen war. Auf Krücken gestützt, sah er Victoria verschmitzt an. Um seinen Mund lag etwas Verstörendes. Der vage Blick aber hatte etwas einnehmend Gelassenes und sein Halblächeln etwas Gütiges.
»Ist er das?«, fragte sie Andrea.
Andrea nickte. Sie dachte, Victoria würde sie hineinbitten. Das tat sie nicht. Ohne eine Miene zu verziehen, musterte sie David lediglich. Der wusste nicht, was er sagen sollte, und begann sich unwohl zu fühlen.
Einen Augenblick lang zögerte Andrea. Sie überlegte kurz, ob sie David beim Arm nehmen und diese Frau, die sie so abschätzig behandelte, ihrem Schmerz überlassen sollte.
»Ist Amador auch da?«, fragte sie und zog den Reißverschluss an ihrer Tasche zu.
Die geschwächten Stimmbänder strapazierend, rief Victoria laut nach Amador. Es gelang ihr, »Seasons in the sun« zu übertönen, dessen Melodie mit voller Lautstärke durch die Lautsprecher im Arbeitszimmer drang.
»Er hört nichts«, erklärte Victoria. »Wenn er sich in sein Arbeitszimmer zurückzieht, vergisst er alles um sich herum. Aber
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