9 Stunden Angst
unerbittlich auf das Dach des kleinen Reihenhauses in South Wimbledon herunter, in dem George mit seiner Familie lebte. Er spürte, wie die Hitze durch die Decke und die Wände drang, die mal wieder einen Anstrich hätten vertragen können, eine Arbeit, die er sich immer wieder vornahm und dann doch nie anpackte.
Heutzutage wurde wegen jeder Kleinigkeit gleich eine Warnung an die Bevölkerung herausgegeben. Als ob die Leute zu dumm wären, die Hitze zu bemerken und sich entsprechend zu verhalten. Offenbar brauchten sie dringend jemanden, der sie warnte und bevormundete. Wie auf diesen Plakaten, die vor übermäßigem Alkoholkonsum warnten und in Wirklichkeit von der Spirituosenindustrie finanziert wurden. Behandelte man die Leute wie Schwachköpfe, dann verhielten sie sich auch so.
Der Ventilator am Fußende des Bettes blies warme Luft über Georges Körper, der sich seit den Zeiten, als er Stammspieler in der Fußballmannschaft seiner Schule gewesen war, nur geringfügig verändert hatte. Seine Arme und Beine waren immer noch genauso muskulös, nur seine Körpermitte verriet inzwischen die sitzende Tätigkeit und drohte, über den Rand seines Gürtels zu quellen.
Außerdem musste er dringend mal wieder zum Friseur. Der stachelige Kurzhaarschnitt, den er sich im Frühjahr zugelegt hatte, war längst herausgewachsen, und er hegte den dringenden Verdacht, dass seine viel zu lang gewordenen, buschigen Koteletten seine vollen Wangen betonten. Heute hätte ihn wohl niemand mehr mit dem jungen Albert Finney verglichen, wie es eine Exfreundin einmal getan hatte. George hatte auch dann noch stolz mit diesem Vergleich geprahlt, als er längst nicht mehr mit besagter Freundin zusammen gewesen war. Vielleicht war die Ähnlichkeit ja mit ihm gealtert, so dass er jetzt aussah wie Albert Finney mit vierzig – nach ein bisschen zu viel Kuchen.
George genoss den Luftzug des Ventilators, aber der Radiowecker zeigte unerbittlich die fortschreitende Uhrzeit an. Es war immer dasselbe. Wenn er endlich müde war, war es Zeit zum Aufstehen. Dieses Problem hatte Maggie nicht. Sie schlief ein, sobald ihr Kopf das Kissen berührte, und wachte nur auf, wenn Sophie oder Ben unruhig wurden, so als hätte sie einen sechsten Sinn für ihre Kinder. In dieser Nacht hatte sich jedoch keiner der beiden gerührt, und Maggie schlief immer noch tief und fest. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht, das Laken fest um die Schultern gezogen.
Als er Maggie kennengelernt hatte, war ihm unbegreiflich gewesen, wie ihn eine so schöne Frau attraktiv finden konnte. Offenbar hatte ihr imponiert, dass er – anders als ihre ehemaligen Collegefreunde, die allesamt karrierebewusst gewesen waren und BWL oder Marketing studiert hatten – einen alternativeren Lebensstil vorgezogen hatte. (Er hasste das Wort alternativ.) Dass er arm gewesen war – er hatte damals als Bassist in einer Band namens Crawlspace gespielt –, war kein Problem für sie gewesen. Maggie hatte einen guten Job im West End gehabt, wo sie für eine Theateragentur gearbeitet hatte, weshalb sie es sich leisten konnte, Verständnis für seine künstlerischen Ambitionen zu zeigen.
Als junger Mann hatte er einen schlecht bezahlten Job nach dem anderen angenommen, immer getrieben von der festen Überzeugung, dass hinter der nächsten Ecke der große künstlerische Durchbruch auf ihn wartete. Im Laufe der Jahre hatte er sich als Popstar, Schriftsteller, Komiker und Schauspieler versucht, auf jedem Gebiet aber schon beim ersten Anzeichen von Ablehnung wieder aufgegeben. Manchmal dachte er, dass er vielleicht erfolgreicher gewesen wäre, wenn er sich auf eine Begabung konzentriert hätte. Er hatte wohl »auf zu vielen Hochzeiten getanzt« – ein Ausdruck, den er von seinen Eltern zu hören bekam, seit er ein kleiner Junge war.
Vor zehn Jahren hatte er dann eine Anzeige im Evening Standard entdeckt, in der für den U-Bahnhof Morden Personal gesucht wurde. Morden war die südlichste Station der Northern Line und lag nicht weit von seinem Wohnort entfernt. George hatte sich beworben und war prompt eingestellt worden. Es ist ja nur eine Notlösung, bis sich etwas Besseres ergibt, hatte er sich eingeredet. Ein paar Wochen später war er auf eine Annonce in der Wochenzeitschrift Traffic Circular gestoßen und hatte sich als U-Bahn-Fahrer beworben. Wieder war seine Bewerbung erfolgreich gewesen, und nach einem kurzen Ausbildungslehrgang hatte er am Steuerhebel gesessen und war offizieller Fahrer der Londoner
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